Ungarn:Der Premier und die Autos

Ungarn: Premier Viktor Orban

Mit Tempo zum Wohlstand: Viktor Orbán setzt seit 2010 auf das Versprechen der "Reindustrialisierung" seines Landes.

(Foto: Darko Vojinovic/AP)

Im Wahlkampf schürt die Fidesz-Partei von Viktor Orbán die Angst vor einer Abwanderung deutscher Autohersteller aus Ungarn. Ihre Präsenz ist für den Premier ein wichtiger Machtfaktor.

Von Max Hägler und Tobias Zick, Győr/Kecskemét

Wer gegen die Partei von Viktor Orbán antritt, weiß ja in etwa, worauf er sich einlässt. Aber das, was sie neulich über sich an Behauptungen auf Facebook fand, war doch ein neuer Tiefpunkt des Wahlkampfes: "Sie haben ein Bild von mir gepostet, darunter stand, ich wolle die deutschen Autofabriken in Ungarn zusperren." Alexandra Bodrozsán von der liberalen Momentum-Bewegung ist die Kandidatin des aus sechs Parteien bestehenden Oppositionsbündnisses, das am kommenden Sonntag gegen Orbáns Fidesz-Partei antritt, für Kecskemét. Die Stadt im südlichen Zentrum Ungarns ist für Orbán ein strategisch äußerst wichtiger Ort. Kein Zufall also, dass Fidesz im Wahlkampf gezielt Ängste schürt und Vorwürfe konstruiert, ein Sieg der Opposition würde einen der wichtigsten Arbeitgeber des Landes wegbrechen lassen.

Kecskemét ist Daimler-Stadt. Der deutsche Konzern hat hier im März 2012 sein erstes Werk im europäischen Ausland errichtet und produziert seit 2018 Fahrzeuge der A-Klasse. Alexandra Bodrozsán sagt, es sei natürlich völliger Unsinn, dass sie das Unternehmen von hier vergraulen wolle: "Mercedes ist eine Bereicherung für Kecskemét", sagt sie. Und sollte sie die Wahl gewinnen, dann würde sie in jedem Fall auch auf eine "gute Partnerschaft" mit dem Konzern und seinen Zulieferern setzen. Sie würde allerdings "dafür sorgen, dass man der Stadt auch ansieht, dass sie Standort eines Luxusauto-Herstellers ist". Das hieße etwa: weniger Löcher in den Straßen, bessere Straßenlaternen, ein vorzeigbarer Bahnhof. "Der Lebensstandard müsste hier eigentlich viel höher sein", sagt Alexandra Bodrozsán.

Fragt man im Rathaus nach, klingt das natürlich ganz anders. Es kämen Arbeitnehmer aus ganz Ungarn nach Kecskemét, sagt Klaudia Szemereyné Pataki, die Bürgermeisterin von Orbáns Fidesz-Partei. Neben den rund 4700 Mitarbeitern des Mercedes-Werks seien etwa noch einmal so viele bei den Zulieferer-Firmen beschäftigt, "und die Fluktuation in dem Sektor ist sehr niedrig". Das Lohnniveau sei dank der deutschen Unternehmen deutlich gestiegen. Und dank der Umwandlung der Universität in eine Stiftung - ein Schritt, der von der Opposition scharf kritisiert wurde - könnten die Arbeitskräfte "schnell aus- und umgebildet werden. So kann flexibel auf die Bedürfnisse der Unternehmen reagiert werden".

Autoindustrie generiert ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts

Für Viktor Orbán ist die Anwesenheit der deutschen Autokonzerne im Land eine wesentliche Säule seiner Wirtschaftspolitik. Die Hersteller und ihre Zulieferer generieren gut ein Zehntel des ungarischen Bruttoinlandsprodukts und ein Fünftel der Exporte. Das Versprechen einer "Reindustrialisierung" des Landes war Teil von Viktor Orbáns Kampagne, die ihm 2010 zum Wahlsieg verhalf. Eine Schlüsselrolle sollten dabei die deutschen Autohersteller spielen, die ihrerseits auf der Suche nach günstigeren Produktionsstandorten waren.

In vielen mittelosteuropäischen Staaten treffen Industrietradition und niedrige Löhne zusammen, deshalb hat sich seit der Wende fast überall eine Autoindustrie entwickelt. Allerdings, so heißt es bei einem großen deutschen Autokonzern, betreibe Orbán "eine besonders aktive und klare Standortstrategie". Vor Kurzem entschied sich auch BMW für Ungarn: In diesen Tagen beginnt in Debrecen der Bau eines Elektroauto-Werkes, nicht zum Zug kommen Mitbewerber wie Košice in der Slowakei. Die Förderungen allein seien nicht ausschlaggebend gewesen, heißt es bei BMW, es gehe auch um qualifizierte Mitarbeiter und nicht zuletzt die Lage, konkret zur Ukraine, auch wenn das dieser Tage seltsam anmutet. Denn von dort, wo die Lohnkosten noch viel niedriger sind, bezieht die deutsche Autoindustrie viele Teile.

Die Fidesz-Regierung umwarb seit 2010 Mercedes, Audi und BMW mit niedrigen Steuersätzen und massiven Subventionen. Bis 2020 habe Budapest mehr als 230 Millionen Euro allein an Direktsubventionen an die deutschen Hersteller gezahlt, berichtet das Investigativportal Direkt 36. Und mit Verweis auf die Zuwendungen verbittet sich Regierungschef Orbán gerne Kritik aus den anderen EU-Staaten an seiner politischen Führung: "Die Deutschen und auch die anderen Mitgliedsstaaten verdienen schön an uns", sagte er etwa 2018 in einer Rede bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest, "es lohnt sich weder für sie noch für uns, sich zu beklagen."

Mit Subventionen gegen die Corona-Krise

Zu beklagen gab es dann aber in jüngster Zeit doch einiges: Die Corona-Krise ließ die Autoproduktion in der ersten Hälfte des Jahres 2020 massiv einbrechen - und die Regierung hielt mit zusätzlichen Subventionen kräftig dagegen. Im Juni 2020 besuchte Orbán das Audi-Werk in der westungarischen Stadt Győr, eines der größten Motorenwerke Europas, und sagte: Man werde diese Krise "nicht einfach nur überleben, sondern gestärkt daraus hervorgehen". Der Vorsitzende des Vorstands von Audi Hungaria, Alfons Dintner, lobte "das Engagement der ungarischen Regierung, die mit zahlreichen Konjunkturmaßnahmen aktiv die Wiederbelebung und den Neuanlauf der Wirtschaft vorantreibt". Zu einem Treffen zwischen Audi-Chef Markus Duesmann und Orbán kam es allerdings noch nicht. Man wolle sich nicht hineinziehen lassen in einen Wahlkampf, hört man aus dem Unternehmen.

In der Corona-Krise griff die Regierung nicht nur in die Subventionstöpfe, sondern auch zu harten Einschnitten ins Arbeitsrecht. Per Dekret legte sie etwa fest, dass Arbeitgeber ihre Angestellten in unbezahlten Urlaub schicken konnten. An den großen Auto-Standorten konnte die Gewerkschaft Vasas, die mit der deutschen IG Metall kooperiert, in ihren Verhandlungen mit den Unternehmen verhindern, dass die Dekrete umgesetzt wurden - ebenso wie eine bereits 2019 beschlossene Änderung im Arbeitsrecht, die von Kritikern als "Sklavengesetz" bezeichnet wird: Demnach können Arbeitgeber deutlich mehr Überstunden anordnen und die Arbeitszeiten wesentlich flexibler gestalten als bisher. Es gibt Indizien dafür, dass die Regierung mit dem Gesetz den Wünschen mancher deutscher Firmen im Land entgegenkam.

Qualifizierte Arbeitskräfte sind knapp in Ungarn

Was die Position der Arbeitnehmerseite bislang stärkt: In Ungarn sind qualifizierte Arbeitskräfte knapp - Kritikern zufolge auch ein Resultat der migrationsfeindlichen Politik der vergangenen Jahre. Und: "Die Grenze ist sehr nah, viele junge Leute gehen zum Arbeiten nach Österreich, weil sie dort schlicht besser verdienen", sagt Ákos Molnár, Regionalsekretär der Gewerkschaft Vasas in Győr. In Kecskemét, wo das Gehaltsniveau noch etwas niedriger ist als in Győr, verdienen Beschäftigte in der Autoindustrie nach Vasas-Berechnungen im Durchschnitt etwa ein Viertel des je nach Position entsprechenden Gehalts in Deutschland.

In Győr tritt am Sonntag die Sozialdemokratin Zita Jancsó für das Oppositionsbündnis gegen Fidesz an. Was der politische Gegner über sie und ihre vermeintliche Haltung zur Autoindustrie in den sozialen Medien verbreite, wisse sie gar nicht so genau, sagt sie lächelnd: "Ich habe eine Mitarbeiterin, die sich darum kümmert." Sie legt jedenfalls Wert darauf, dass sie im Falle eines Wahlsiegs die "erfolgreiche Partnerschaft" der Stadt mit Audi fortsetzen würde.

Fidesz habe keinen Grund, den Erfolg der ungarischen Auto-Standorte für sich zu reklamieren, sagt Zita Jancsó: Als Audi 1994 mit der Motorenfertigung in Győr begann, habe ihre Partei sowohl den Bürgermeister gestellt als auch die nationale Regierung in Budapest. "Und es war der sozialdemokratische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, der 2008 Mercedes nach Kecskemét holte." Allein das zeige doch, sagt sie, dass im Fall eines Wahlsiegs der Opposition niemand hier um seinen Job fürchten müsse.

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