Eines muss man Viktor Orbán lassen: Er hat Chuzpe. Die hatte er schon damals, 1989, als er als junger, damals noch unbekannter Politiker bei der Umbettung des ungarischen Nationalhelden Imre Nagy eine flammende Rede für die Demokratie hielt. Chuzpe hat er auch heute. Er versprach dem Europaparlament bei seinem Antrittsbesuch in Straßburg eine Ratspräsidentschaft, die "eine der erfolgreichsten in der Geschichte der EU" sein werde.

Das wird sich weisen, aber trotz des ausgeprägten Selbstbewusstseins des Ungarn stehen die Chancen dafür nicht gut. Die Kritik am neuen, ungarischen Mediengesetz hält ebenso an wie jene an der Sondersteuer für die Profiteure der Finanzkrise - und überhaupt ist in der EU die Skepsis darüber riesig, ob die Regierung in Budapest, die mit Zweidrittelmehrheit regiert, sich an demokratische Spielregeln halten wird, wo doch eine solche Mehrheit zum Missbrauch nachgerade einlädt.
Orbáns Auftritt in Straßburg hat am geballten Unmut in der EU nichts geändert, was der Premier aus Budapest, immer gut für eine Provokation, mit dem Satz noch befeuerte, er lasse sich nicht von ausländischen Politikern kritisieren und das ungarische Volk nicht beleidigen. Was, fragt sich da mancher EU-Parlamentarier, will einer in Brüssel als Ratspräsident, der sich von Brüssel nur ungern etwas sagen lässt?
Der Ungar sieht das selbstredend anders. Denn so eine turnusmäßige Ratspräsidentschaft hat aus Sicht des jeweils präsidierenden Landes manchen Vorteil, für den es einen Imageschaden in Brüssel zu ertragen gilt: Wenn etwa Orbán betont, Ungarn sei stark, wenn seine Regierung eine internationale Kampagne gegen das eigene Land ausmacht, dann ist das vor allem gen Heimat, an seine Wähler gerichtet. Die allermeisten finden Orbáns populistische Politik nach wie vor großartig.
Auch während der tschechischen Ratspräsidentschaft vor zwei Jahren versuchte der damalige Staatspräsident Vaclav Klaus, in das durch eine Regierungskrise entstandene politische Vakuum vorzustoßen und bei Europaskeptikern daheim zu punkten. Das schadete dem Image Prags in Brüssel, aber Klaus war das egal. Ein kleiner Nachtrag, um der historischen Gerechtigkeit willen: Die Ratspräsidentschaft Tschechiens hat die EU nicht ruiniert, sie galt sogar als leidlich erfolgreich.
Nun also Ungarn. Wieder ein kleines osteuropäisches Land, nicht einmal Mitglied der Eurozone, regiert von einem selbstverliebten Nationalkonservativen - und wieder Zweifel. Ist Budapest der Aufgabe gewachsen? Warum gibt es diese Abfolge wechselnder Ratsvorsteher überhaupt noch, wo doch mit dem Lissabon-Vertrag ein ständiger Ratspräsident geschaffen und der Posten dann mit Herman Van Rompuy besetzt wurde?
Was bringt es, wenn in den kommenden Jahren zwei Nicht-Euro-Länder wie Polen und Dänemark, danach wiederum europäische Winzlinge wie Zypern, das kriselnde Irland, Litauen und das kriselnde Griechenland den Job für jeweils gerade mal sechs Monate übernehmen sollen? Und was nützt es, wenn sie immer nur kurz eigene Schwerpunkte setzen, die ohnehin nur in Ansätzen umgesetzt werden können? Die Debatte über Doppelstrukturen und mithin über einen Konstruktionsfehler im Lissabon-Vertrag wird in Brüssel schon lange geführt. Mit der Causa Ungarn ist sie nunmehr neu belebt worden.
Allerdings wäre es zu kurz gesprungen, nur auf Effektivität und Ergebnisse zu schauen. Die vielgeschmähte Regierung in Budapest etwa findet, sie habe Brüssel etwas zu sagen, ja sogar zu beweisen - nämlich dass Ungarn stark sei und die ungarische Demokratie ebenfalls. Der Westen habe offenbar ein Problem damit, zu akzeptieren, dass auch ostmitteleuropäische Staaten eine große Gemeinschaft wie die EU führen könnten.
So ein halbes Jahr übt auch
Hier werden jene Minderwertigkeitsgefühle deutlich, die sich in vielen ehemals kommunistischen Ländern bis heute gehalten haben. Wenn sich Frankreich und Deutschland gegen einen Beitritt von Rumänien und Bulgarien zum Schengen-Abkommen wehren, dann heißt es dort, hier werde mit zweierlei Maß gemessen. Als sich viele westliche Länder 2008 im Augustkrieg zwischen Moskau und Tiflis nicht deutlich genug für den David Georgien einsetzten, da fühlte man sich den großen Mächten ausgeliefert.
Die Doppelstruktur von ständigem Ratspräsidenten und wechselnder EU-Ratspräsidentschaft existiert auch deshalb, weil die kleinen EU-Länder eine Stimme und eine Bühne brauchen. Dass sie diese nicht immer nur zum Wohle der europäischen Allgemeinheit nutzen, tut einerseits nicht lange weh, weil sie dazu zu machtlos sind, und ist bekanntlich andererseits nicht allein ein Charakteristikum kleiner Staaten. Außerdem: So ein halbes Jahr übt auch.
Die Fidesz-Regierung zum Beispiel wird vermutlich den Teufel tun und in den kommenden Monaten, quasi unter öffentlicher Aufsicht, spektakuläre Fälle von Medienzensur durchziehen; was danach kommt, wenn wieder weniger hingeschaut wird, ist eine andere Frage. Und vielleicht macht sich auch manch einer in Ungarn jetzt mehr Gedanken als vor einem Jahr, ob es richtig war, Orbán zu einer verfassungsändernden Mehrheit zu verhelfen.