Minderheitenrechte in der UkraineSelenskij-Dekret könnte Streit mit Ungarn befeuern

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Da sah es noch nach Entspannung im Verhältnis zum Nachbarn aus: Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó im September 2020 in der Ukraine.
Da sah es noch nach Entspannung im Verhältnis zum Nachbarn aus: Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó im September 2020 in der Ukraine. (Foto: Serhii Hudak /imago images/Ukrinform)

Der ukrainische Präsident will Minderheiten aus Politik und Staat fernhalten. Vor allem die Regierung in Budapest dürfte das als Affront empfinden.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Noch Ende Januar hatte es so ausgesehen, als würden Kiew und Budapest einen lange schwelenden Konflikt beilegen, der das Verhältnis der Nachbarn seit Jahren vergiftet. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó war bei seinem Amtskollegen Dmytro Kuleba gewesen, um über die Rechte der ungarischen Minderheit im Südwesten der Ukraine zu reden; in Transkarpatien leben mehr als 150 000 ungarnstämmige Ukrainer.

Die meisten von ihnen haben die doppelte Staatsbürgerschaft - auch weil die Regierung in Budapest vor einem Jahrzehnt begann, Pässe an die insgesamt mehr als zwei Millionen jenseits der Landesgrenzen lebenden Ungarn zu verteilen. Vor allem aber in der Slowakei und der Ukraine rief das Empörung hervor.

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Nun sorgt ein Dekret des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij für neuen Diskussionsstoff. Laut Kyiv Post will der Präsident ein Gesetz erarbeiten lassen, dass Bürgern mit doppelter Staatsbürgerschaft verbietet, kommunale oder staatliche Ämter zu besetzen, Mitglied in einer politischen Partei zu werden, politische Funktionen einzunehmen oder Zugang zu Staatsgeheimnissen zu haben. Auch die Teilnahme an Wahlen für Doppelpassbesitzer steht zur Disposition.

Das Gesetz, so Kommentatoren in der Ukraine, zielt vornehmlich auf ukrainische Politiker mit russischen Pässen sowie auf die von Russland besetzte Krim und die Separatisten-Regionen im Donbass. Dort soll das Gesetz Gültigkeit erlangen, sobald Kiew "die Kontrolle über die Gebiete zurückgewonnen" habe, so das Dekret.

Ein Sprachgesetz sorgte für Streit zwischen Budapest und Kiew

Ein derartiges Vorgehen würde aber naturgemäß auch andere Minoritäten treffen. Insbesondere Ungarn, das sich mit Verweis auf den Verlust großer Teile des früheren Staatsgebiets nach dem Trianon-Vertrag 1920 als eine über mehrere Staaten verteilte Nation begreift, dürfte das nicht hinnehmen. Vergangenes Jahr hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bei der Einweihung eines Trianon-Denkmals betont, es gebe keine "einzige Nation in der Welt, die solche hundert Jahre ausgehalten hätte. Eine Grenze besitze "nur das Land, nicht aber die Nation".

Der bilaterale Streit zwischen Budapest und Kiew hatte sich 2017 intensiviert, als die Ukraine ein Gesetz erließ, nach dem in Schulen ab der fünften Klasse nurmehr Ukrainisch gesprochen werden soll. Der Schritt war wiederum Teil einer "Ukrainisierungskampagne", die auch andere Minderheiten im Land traf. Der sogenannte Sprachenstreit spaltet die Ukraine seit der Unabhängigkeit von Russland; ein erstes, in der Stoßrichtung entgegengesetztes Gesetz von 2012, mit dem die damalige, Moskau-treue Regierungspartei das Russische vor allem zugunsten der nach Autonomie strebenden Regionen im Osten aufwertete, führte zu Ausschreitungen und befeuerte den Aufstand auf dem Maidan, der dann zum Sturz der pro-russischen Regierung führte.

Die ungarische Regierung unter dem kämpferischen Nationalisten Orbán warf den Nachbarn 2017 wegen der Einführung des Sprachengesetzes unter der Regierung des damaligen Präsidenten Petro Poroschenko umgehend vor, Kultur und Freiheitsrechte der Ungarn zu beschränken. Er kündigte an, die weitere Annäherung Kiews an Nato und EU zu bekämpfen. Im vergangenen Herbst eskalierte die Sache weiter, weil Kiew der ungarischen Regierungspartei Fidesz eine unzulässige Einmischung in die Kommunalwahlen durch die Unterstützung ungarischstämmiger Kandidaten und Parteien vorhielt.

Die Visite von Außenminister Szijjártó bei Kuleba Anfang 2021 sollte eine Befriedungsphase einleiten. Der Ukrainer Kuleba betonte, man respektiere die ungarische Minderheit, der keine separatistischen Tendenzen vorzuwerfen seien. Man erwarte aber auch Respekt für ukrainische Belange. Nun aber, mit dem Dekret des ukrainischen Präsidenten, könnte sich die Sache neu entzünden.

Ungarn reagiert noch verhalten auf das neue Dekret

Eine Beschränkung des passiven Wahlrechts für Ungarnstämmige und das Verbot, Jobs in Staatsunternehmen zu besetzen, muss Orbán als massiven Affront betrachten. Noch sind die Reaktionen in Budapest aber verhalten - was daran liegen mag, dass der ukrainische Außenminister das Dekret seines Präsidenten zwar mit Blick auf Interventionen des "russischen Aggressors" verteidigte. Gleichzeitig stellte er aber vage eine Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts in Aussicht.

Auch in der Slowakei wird derzeit offenbar über eine sehr vorsichtige Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts nachgedacht, das Doppelpässe komplett verbietet. Die Initiative des ungarischen Außenministers, der dazu vor wenigen Tagen auf eigene Faust Gespräche mit einem ungarischstämmigen, slowakischen Abgeordneten führte, verbat sich Bratislava aber vehement. Das sei eine "Einmischung in innere Angelegenheiten".

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