Süddeutsche Zeitung

Ungarn:Orbán macht Stimmung gegen Russland-Sanktionen der EU

Das hat auch strategische Gründe: Bald soll in Brüssel eine wichtige Entscheidung fallen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Viktor Orbán hat seinen Landsleuten mal wieder einen Brief geschickt. Sieben Fragen stehen darin, die nun per Post oder online beantwortet werden sollen, weil die Regierung laut Eigenpropaganda Wert darauf legt, "den Menschen zuzuhören". "Nationale Konsultationen", rechtlich unverbindliche Massenbefragungen, sind ein beliebtes Mittel von Fidesz zur Mobilisierung in eigener Sache. Sie wurden vom ungarischen Ministerpräsidenten auch schon zur Lockerung von Covid-Maßnahmen oder zur Verteilung von Migranten in Europa abgehalten - und haben immer das erwünschte Ergebnis erzielt.

Diesmal geht es um die von den EU-Staaten gemeinsam beschlossenen Sanktionen gegen Russland, denen Ungarn - bis auf Details - stets zugestimmt hatte. Was Orbán in seinem Brief allerdings unerwähnt lässt.

Vielmehr klingt es so, als sei Ungarn das Opfer einer irren Brüsseler Bürokratie, die bei ihrem Versuch, Russland für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu strafen, nicht nur massiv übers Ziel hinausgeschossen sei, sondern insbesondere Ungarn zum Opfer ihrer überzogenen Maßnahmen gemacht habe. Parallel zur Volksbefragung wird das Land mit einer Plakatkampagne überzogen, auf der eine Bombe mit der Aufschrift "Sanktionen" zu sehen ist; darunter: "Brüssels Sanktionen zerstören uns!" Als seien es nicht russische Raketen, die ukrainische Städte zerstörten. Folgerichtig bezeichnet Orbán die EU-Sanktionen auch in seinen Reden gern als "Atombombe", die es abzuwenden gelte.

Ungarn kann die EU mit Vetos zur Ukraine-Politik erpressen

Wenn man dem Ministerpräsidenten glaubt, ist die Lage im Land dramatisch - wegen Brüssel. "Die Sanktionen schaden der europäischen und der ungarischen Wirtschaft. In der Zwischenzeit konnte Russland seine Einnahmen sogar steigern", heißt es in dem Brief an die Bürger. In seiner wöchentlichen Ansprache auf Kossuth Rádió verbiegt Orbán die Wahrheit vollends: "Die Sanktionen wurden nicht auf demokratischem Weg eingeführt, niemand ist gefragt worden."

Was der Ungar erreichen will, liegt auf der Hand: In einigen Wochen wird erst die EU-Kommission eine Empfehlung aussprechen und dann der Europäische Rat entscheiden, ob das Land genug getan hat zur Korruptionsbekämpfung - und ob die wegen des laufenden Rechtsstaatsverfahrens zurückgehaltenen Euro-Milliarden aus Brüssel, die Orbán so dringend braucht, freigegeben werden. 17 Maßnahmen will Budapest umsetzen; Kritiker sprechen von "kosmetischen Korrekturen" und "Scheinreformen", aber in der Kommission scheint man geneigt zu sein, Orbán entgegenzukommen. Ein Grund: Er kann die EU mit Vetos zur Ukraine-Politik erpressen.

Nun will der Populist sich auch offiziell ein Mandat vom Volk holen. Dementsprechend suggestiv sind die Formulierungen in der "Nationalen Konsultation": "Steigende Lebensmittelpreise erhöhen das Risiko von Hungersnöten in Entwicklungsländern. Dies kann zu größeren Migrationswellen als zuvor führen und den Druck auf die Grenzen Europas erhöhen. Stimmen Sie den Sanktionen zu, die für den Anstieg der Lebensmittelpreise verantwortlich sind?"

Orbán greift die EU wieder offen an

Gefragt wird auch nach Gas- und Ölsanktionen; für Letztere hatte Ungarn indes schon weitreichende Sonderkonditionen ausgehandelt: "Das Ölembargo würde im Fall von Ungarn zu ernsthaften Versorgungsproblemen führen und eine gigantische Belastung für die Wirtschaft bedeuten. Sind Sie mit den Brüsseler Ölsanktionen einverstanden?"

Kurz vor Kriegsausbruch war der Ministerpräsident selbst, später Außenminister Péter Szijjártó in Moskau, beide haben über Gaslieferungen verhandelt. Im August wurde dann der Startschuss für den Ausbau des Atomkraftwerks Paks durch einen russischen Staatskonzern bekannt gegeben. Alles das zu einer Zeit, in der andere EU-Staaten ihre Verbindungen zum Kreml zu kappen versuchten - oder es zumindest versprachen.

Mittlerweile ist Orbán zu seinen offenen Angriffen auf die EU zurückgekehrt, die er während der Verhandlungen über den Rechtstaatsmechanismus zeitweilig zurückgefahren hatte. Eine Studie des Budapester Think-Tanks "Political Capital" weist zudem die Übernahme russischer Narrative und Verschwörungstheorien in regierungsnahen Medien auf - begleitet von einer dezidiert antiwestlichen und antiamerikanischen Rhetorik.

Die war zuletzt sogar der Regierung von Joe Biden zu viel. Die US-Botschaft in Budapest veröffentlichte jetzt ein Video, das wie ein Quiz aufgemacht ist. Es zeigt aggressive, populistische Zitate, in denen die USA beschuldigt wird, am Ukraine-Krieg zu verdienen, die Ukraine zu einer US-Provinz machen zu wollen, einen Friedensschluss zu verhindern, einen heidnischen, antihumanistischen Kurs zu fahren, weshalb man in den Krieg gegen Amerika ziehen müsse.

"Wer hat es gesagt?", wurde jeweils gefragt, zur Auswahl standen Wladimir Putin und hochrangige Fidesz-Politiker. Wenig überraschend stammten alle Zitate von engen Vertrauten Orbáns. Weshalb der kurze Film, ein Renner in den sozialen Medien, mit dem trockenen Statement endete, angesichts der russischen Aggression sollten Alliierte zusammenstehen. Und nicht aufeinander losgehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5679249
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/liv
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.