Richterinnen und Richter sind eine diskrete Berufsgruppe. Sie äußern sich ungern außerhalb des Gerichtssaals, und schon gar nicht drängt es sie in die Öffentlichkeit. Niemand will schließlich auch nur den Anschein erwecken, nicht unabhängig zu sein. Wenn nun Tausende Richter auf die Straße gehen, dann ist das schon außergewöhnlich. Besonders in Ungarn. In einem Land, das von Premierminister Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz seit den Zehnerjahren zu einem autoritären Staat umgebaut wurde. In dem man Nachteile aller Art befürchten muss, wenn man sich offen gegen die Regierung stellt.
Und doch passierte am vorletzten Wochenende in Budapest genau das. Fast 3000 Menschen, die meisten von ihnen Richterinnen, Richter oder Gerichtsbedienstete, versammelten sich auf dem Platz vor dem ungarischen Parlamentsgebäude und zogen dann weiter zum Justizministerium, wo die ungarische Richtervereinigung Mabie eine Kundgebung organisiert hatte. Das Wort „historisch“ fiel sehr oft an diesem Tag – es war der erste Großprotest der Richterschaft in der Geschichte Ungarns. Wenn es nach den versammelten Richterinnen und Richtern geht, steht genau das auf dem Spiel, was sie um jeden Preis bewahren müssen: ihre Unabhängigkeit. Und damit auch die der Justiz.
Sie könnte durch neue Maßnahmen erpressbar werden, warnt die Richterschaft
Der Protest hatte mehrere Auslöser. Zum einen geht es um ein Abkommen zwischen der Regierung und drei Körperschaften der Justiz. Dieses legte Ende vergangenen Jahres fest, dass die Gehälter von Richterinnen und Richtern daran gekoppelt werden sollen, wie gut sie Reformen umsetzen. Dies sei, wie die Betroffenen befürchten, nicht nur ein Einfallstor für politischen Einfluss, sondern die Richterschaft werde dadurch auch erpressbar.
Zum anderen geht es den Richterinnen und Richter um Meinungsfreiheit. In den vergangenen Jahren konnte man immer wieder beobachten, was mit Richtern passiert, die davon Gebrauch machten. András Baka zum Beispiel.

Der 72-Jährige war Präsident des Obersten Gerichtshofs, ehe er 2011 aus dem Amt entfernt wurde. Baka hatte damals eine Verfassungsänderung unter Orbán kritisiert, die es unter anderem ermöglichte, Teile der Richterschaft frühzeitig in Rente zu schicken und die Posten mit Leuten zu besetzen, die Fidesz mutmaßlich genehmer waren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, den Baka nach seiner Entlassung anrief, gab ihm 2016 im Grundsatzurteil „Baka versus Ungarn“ recht.
Baka stand bei der Demonstration ebenfalls auf dem Podium und sagte, dass jeder Richter ein Recht darauf habe, seine Meinung frei zu äußern.
Die ungarische Regierung weist die Vorwürfe zurück. Gergely Gulyás, der Stabschef von Viktor Orbán, sagte, die Unabhängigkeit der Justiz sei durch die Verfassung garantiert. Die Regierung habe mit der Justizverwaltung nichts zu tun, das Abkommen über die Ausgestaltung der Gehälter sei nach gesetzlichen Vorgaben erfolgt.
Hier lässt sich gut der Unterschied zwischen liberaler und illiberaler Denkweise erkennen, sagt ein Strafrechtsprofessor
Was in der Justiz passiert, ist in jedem Land komplex und schwierig zu durchschauen. Auch die meisten Ungarinnen und Ungarn dürften nicht wirklich verstehen, was genau das Problem der Richter ist. Zumal sich die Aufmerksamkeit an dem Tag auf Viktor Orbán richtete, der fast zur selben Zeit seine Rede zur Lage der Nation hielt, es war seine inzwischen 26. Darin lobte er nicht nur Donald Trump und kritisierte die Ukraine-Politik der EU, sondern er versprach auch allen Müttern von mindestens zwei Kindern lebenslange Steuererleichterungen.
Dennoch sei der Protest Ausdruck von etwas Größerem, sagt der Strafrechtsprofessor Péter Hack von der Eötvös-Loránd-Universität. Denn er lege offen, wie ernst es um die ungarische Justiz stehe.
Nicht nur würden die geplanten Änderungen, also die Gehälter von Richtern von deren Reformwillen abhängig zu machen, allen Prinzipien der ungarischen Rechtsstaatlichkeit widersprechen. Man könne hier auch gut den Unterschied zwischen liberaler und illiberaler Denkweise erkennen, sagt Hack, der über rechtsstaatliche Verfahren und Korruption forscht. Eine liberale Demokratie respektiere Institutionen, die von Personen ausgefüllt werden. Eine illiberale respektiere nur bestimmte Personen und passe die Institutionen an diese an.
Können die Gerichte am Ende ihre Arbeit überhaupt noch machen?
Das sah auch die Richterin mit dem roten Rock so, die mit einem weiß-blauen Fähnchen der Richtervereinigung Mabie in der Menge stand. Sonst sah man kaum Schilder, die Organisatoren hatten gebeten, auf alles zu verzichten, was politisch gedeutet werden könnte. Nur ein Mann hielt eine Stange mit einem selbstgebastelten Paragrafenzeichen hoch, nach dem zwei rote Hände greifen. Die Richterin wollte ihren Namen nicht nennen, die ersten Fidesz-Getreuen haben schon gefordert, Listen über die Anwesenden zu erstellen. Nur so viel: Sie arbeite seit 15 Jahren im Südosten Ungarns als Zivilrichterin.
Die Justiz, sagt sie, sei eine der letzten intakten Säulen der ungarischen Demokratie. Zwar sei das Verfassungsgericht politisch besetzt, und die Kúria, der Oberste Gerichtshof, werde nun ebenfalls von einem Kandidaten der Regierung geleitet. Aber der Großteil der 2800 ungarischen Richterinnen und Richter mache einen guten Job. Die Frage der Bezahlung ist für sie eine weitreichende. Die Gehälter in der Justiz sind nicht gerade üppig (sie liegen in den ersten Berufsjahren bei etwa 24 000 Euro brutto im Jahr) und wurden zuletzt auch noch von der hohen Inflation aufgefressen. Die Bediensteten der Geschäftsstellen, die die Arbeit der Gerichte am Laufen halten, verdienen noch weniger, etwa 700 Euro im Monat.
Wenn, wie es derzeit geplant ist, auch noch das Mindestalter für den Richterberuf von 30 auf 35 Jahre angehoben werden soll, dann würden viele junge Juristinnen und Juristen lieber in der freien Wirtschaft ihr Glück versuchen als im Staatsdienst, sagt die Richterin. Am Ende stehen Gerichte, die ihre Arbeit nicht mehr machen können – auch dies sei eine Möglichkeit, die unabhängige Justiz zu behindern. Sie habe daher keine Sekunde gezögert, sich dem Protest anzuschließen, erzählt sie, „ich bin eine Rebellin, ich stehe für unsere Rechte ein“. Die ungarische Regierung weist die Vorwürfe zurück. Die Gehälter würden stufenweise erhöht und bis 2027 durchschnittlich 5500 Euro im Monat betragen.
In Umfragen sind zwei Drittel für einen Regierungswechsel
Viele fragen sich nun, ob Proteste wie dieser der Anfang von etwas sind. Seit vergangenem Jahr hat sich in Ungarn eine nennenswerte Oppositionsbewegung unter dem früheren Fidesz-Politiker Péter Magyar formiert. Magyar kommt aus einer Familie von Richtern, er selbst wurde Anwalt. Der Hintergrund ist seiner Graswurzel-Opposition anzumerken.
Magyar fährt hinaus aufs Land, hört sich in Imbissen die Sorgen der Leute an, dokumentiert die Zustände der Krankenhäuser, in denen es teilweise nicht einmal Toilettenpapier gibt. Diese Art von Populismus kommt in Zeiten der Rezession gut an, in jüngsten Umfragen sprechen sich bereits zwei Drittel der Befragten dafür aus, dass es einen Regierungswechsel geben soll.

Zwar macht es das Wahlsystem, das Orbán nicht zuletzt mithilfe der Justiz auf die Bedürfnisse von Fidesz zugeschnitten hat, äußerst schwierig für die Opposition, die überdimensional hohe Zahl der Stimmen zu erreichen, die für einen Wahlsieg erforderlich sind. Aber die Chancen für Magyar sind besser als für jeden anderen.
Der Wahlforscher András Pulai sagt, ihn erinnere das alles an die Zeit zwischen 2009 und 2010, das große Wechseljahr in der ungarischen Geschichte. Damals konnte die bestehende sozialistische Regierung in den Augen der Bevölkerung nichts mehr richtig machen. Bei der folgenden Wahl gewann dann Viktor Orbán, der Rest ist Geschichte. Aber diese, so Pulai, könne sich vielleicht auch wieder umdrehen.