Ungarn:Protest gegen den selbsternannten "Kulturnationalisten"

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Studenten einer renommierten Universität werfen der Regierung Orbáns vor, die Freiheit der Theater einschränken zu wollen.

Von Tobias Zick, München

Theater- und Filmstudenten protestieren am Sonntag in Budapest: Für ihre Aktionen erhalten die Demonstranten viel Unterstützung. Auch das Berliner Ensemble zeigte sich solidarisch mit ihnen. (Foto: Marton Monus/picture alliance/AP Photo)

Sie ist noch jung, die neue Protestbewegung, aber ein Symbol hat sie bereits: rot-weißes Plastikband. Tausende Menschen haben sich am Sonntag zu einer Menschkette durch Budapest formiert, die meisten mit Mundschutzmasken - und einem Stück Absperrband zwischen sich und dem jeweils Nächsten in der Reihe. So also kann man sich an die Corona-Infektionsschutzregeln halten und trotzdem Hand in Hand gehen.

Die Universitätsgremien waren entmachtet worden. Daraufhin traten sie kollektiv zurück

Das rot-weiße Flatterband war aber in erster Linie ein Anklang an eine Aktion an der renommierten Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE) Anfang vergangener Woche: Ein Großteil der dortigen Studenten hatte die Hochschule besetzt, aus Protest gegen die Übernahme durch ein neues, von der Regierung bestelltes Kuratorium. Sie hatten den Eingang mit zahllosen Lagen Absperrband versperrt, damit die neuen, unerwünschten Herren gar nicht erst ihren Arbeitsplatz beziehen können. Die Blockade werde erst beendet, verkündeten sie, wenn die gewählten Gremien der Universität wieder ihre Leitungsbefugnisse zurückerhalten. Die waren vom neuen Kuratorium de facto entmachtet worden - und daraufhin im Protest kollektiv zurückgetreten: das Rektorat, der Senat, die Dekanatsleitungen. Es sei ihnen "nichts anderes übrig geblieben", erklärte der scheidende Rektor László Upor; die neue Führung habe "jeglichen Dialog mit uns verweigert". Eine Reihe prominenter Lehrkräfte, darunter die Filmregisseurin Ildikó Enyedi sowie die Theaterregisseure Tamás Ascher und Viktor Bodó, legten ihre Ämter nieder.

Die Solidaritätsbekundung für die Uni-Besetzer zog sich am Sonntag durch weite Teile der Budapester Innenstadt; die Menschenkette, deren Teilnehmer stellenweise in doppelten Reihen standen, erstreckte sich über etwa fünf Kilometer, von der Theater-Universität bis zum Parlament. Der Zorn richtet sich in erster Linie gegen den neuen Präsidenten des Kuratoriums, Attila Vidnyanszky, der als Vertrauter des nationalkonservativen Regierungschefs Viktor Orbán gilt und als Intendant des Nationaltheaters in Budapest fungiert. Vidnyánszky bezeichnet sich selbst als "Kulturnationalist" und hatte im Vorfeld seiner Machtübernahme erklärt, an der 115 Jahre alten Theater- und Filmhochschule habe sich über die Generationen "eine Art Elitismus etabliert, in Bezug auf bestimmte Denkweisen, Methoden und Konzepte"; die dortige Lehre trage "ideologische" Züge. Die Uni müsse sich künftig, so Vidnyánsky, verstärkt auf "die Nation, die Heimat und das Christentum" konzentrieren.

Das sieht ein wesentlicher Teil von Personal und Studierenden anders. Mihaly Cserni, Vorsitzender der Studentenschaft an der SZFE, sieht die Hochschule als jüngstes Opfer in einem "Kulturkrieg", den Orbán seit Längerem führe. Vergangenes Jahr war die als liberal geltende Central University (CEU) unter dem Druck der Regierung von Budapest nach Wien umgezogen, später hatte die Regierung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ihre Autonomie entzogen.

Die Berufung sei ein weiterer Schritt "in Richtung einer Gleichschaltung der Kultur"

Orbán selbst weist freilich den Vorwurf geistiger Gleichschaltung zurück; die Reformen würden es der SZFE vielmehr ermöglichen, "unabhängiger vom Staat zu operieren", hatte er im Juli erklärt (formal geht die Führung der Uni an eine Stiftung über), und sie würden den dortigen Studierenden "bessere Möglichkeiten" eröffnen. Sein Kanzleramtsminister Gergely Gulyás sagte vergangene Woche angesichts der Uni-Besetzung, man wolle niemandem "das verfassungsmäßige Recht auf Protest einschränken", auch wenn die Regierung mit dem Ziel der Proteste "nicht einverstanden" sei und die zugrunde liegenden Befürchtungen für "unbegründet" halte.

Unterdessen solidarisieren sich immer mehr Kulturschaffende aus anderen Ländern mit den streikenden Studierenden und dem geschassten Lehrpersonal in Budapest. Das Berliner Ensemble etwa sagte seine geplante Teilnahme an einem Festival im kommenden Jahr ab, das Attila Vidnyánsky leitet. Man wolle ein "Zeichen der Solidarität" setzen, erklärte der Intendant Oliver Reese; die Einsetzung des neuen Kuratoriums in Budapest sei ein weiterer Schritt der Orbán-Regierung "in Richtung einer Gleichschaltung der Kultur". Martin Kušej, Künstlerischer Direktor des Wiener Burgtheaters erklärte: "Aus langjähriger Erfahrung als Regieprofessor weiß ich, wie wichtig Unabhängigkeit für jede künstlerische Ausbildung ist. Hochschulen müssen frei von politischer Einflussnahme bleiben!" Die Mitglieder der Union der Europäischen Theater (UTE) erklärten in einem gemeinsamen Statement, man verurteile "jeden Versuch, die Freiheit und Unabhängigkeit der Theater einzuschränken". Zugleich habe man Hoffnung, "dass die Situation in Ungarn durch einen rationalen Dialog und verantwortungsvolle Entscheidungen geregelt werden kann und dass das Theater kein spaltendes, sondern ein verbindendes Element der ungarischen und der europäischen Kultur bleibt".

Solch einen erhofften Dialog hat es, immerhin, am vergangenen Mittwoch gegeben. Der neue Kuratoriumspräsident Attila Vidnyánsky traf sich mit Vertretern der zurückgetretenen Hochschulleitung - und erklärte im Anschluss im staatlichen Kossuth Radio, man sei sich "in allen wichtigen Punkten" uneinig. Immerhin sei man übereingekommen, dass der Lehrbetrieb noch bis Ende September weitergeführt werden müsse. Danach werde man mit komplett neuem Personal weitermachen.

© SZ vom 08.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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