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Rechtsstaatlichkeit:Zwei gegen den Rest Europas

Lesezeit: 6 min

Die EU will Ungarn und Polen auf den rechten Weg zurückzwingen. Aber wie? Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Streit, der die EU zerreißen könnte.

Von Thomas Kirchner

Der Streit über die Rechtsstaatlichkeit in der EU spitzt sich zu. Ungarn und Polen wollen kommende Woche das große Finanzpaket blockieren. Es enthält einen Mechanismus, mit dessen Hilfe die beiden Länder für Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien finanziell bestraft werden könnten. Damit hätte die EU vorerst keinen neuen Haushalt - vor allem aber würde eine rasche Auszahlung aus dem Corona-Wiederaufbaufonds unmöglich, die Länder wie Italien und Spanien dringend herbeiwünschen. Eine Lösung müsse her, man habe keinen Plan B, sagt Ratspräsident Charles Michel. Der Union droht damit die nächste große Krise - und die Spaltung. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu im Überblick:

Worum dreht sich der Streit?

Die EU-Mitglieder Ungarn und Polen gehen, seit die Nationalpopulisten Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński dort den Ton angeben, politisch einen deutlich anderen Weg als der Rest der Union. Die ungarische Regierung beschneidet die Meinungsfreiheit, indem sie freundlich gesonnene Medien aufkauft und fördert, kritische Medien hingegen juristisch verfolgen lässt. Sie schikaniert und bedroht Kritiker aus der Zivilgesellschaft, beschränkt die Wissenschafts-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Polen wiederum legt die Hand an einen zentralen Pfeiler des Rechtsstaats: die Unabhängigkeit der Justiz von Weisungen der Regierung. Nach den jüngsten Reformen ist von dieser Unabhängigkeit nicht mehr viel übrig, nicht zuletzt im Höchsten Gericht. Das wirkt sich auf den rechtlichen Alltag aus. Immer häufiger werden kritische Richter oder Juristen in Polen durch regierungstreue Kollegen kaltgestellt. Urteile der EU-Justiz werden ignoriert. Der Rest der EU will und kann das nicht hinnehmen und lotet verschiedene Optionen aus, die sich aber bisher als schwierig durchzusetzen erweisen.

Was ist der politische Hintergrund?

Hier geht es nicht nur um Machtsicherung, sondern um einen fundamentalen Auffassungsunterschied. Viktor Orbán hat mehrmals deutlich gemacht, dass er das "Brüsseler" Verständnis von liberaler Demokratie ablehnt. Die "illiberale" Demokratie, die Orbán propagiert, ist im Kern vor allem eine Negation des Pluralismus, der konstitutiv ist für die liberale Demokratie. Pluralismus heißt, dass es nicht die "eine" politische Ansicht gibt, die "richtig" oder "gut" wäre für ein Gemeinwesen. Vielmehr ist ein Spektrum an Meinungen zulässig, ja erwünscht. Der Staat sorgt dafür, dass alle geäußert werden können, solange sie im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Ordnung bleiben.

Orbán sieht das offenbar anders. Er glaubt eigenen Aussagen zufolge an eine Art "Volkswillen", den zu erkennen er selbst in der Lage ist. Alle anderen Meinungen "schaden" dem "Volk" dann per Definition und müssen deshalb unterdrückt werden.

Warum ist das für die EU ein so großes Problem?

In der EU wird viel und oft sehr hart gestritten, meist geht es um Geld oder politische Richtungsentscheidungen. Hier aber geht es um Grundlegenderes: um die Werte-Basis der Union, um Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Diese Prinzipien sind, wie es in Artikel 2 des EU-Vertrags heißt, "allen Mitgliedstaaten (...) gemeinsam". Polen und Ungarn unterminieren die Garantie von Artikel 2; sie würden, bewürben sie sich heute um eine Mitgliedschaft, längst nicht mehr aufgenommen. Das ist nicht nur an sich problematisch, sondern stellt etwa auch das Funktionieren des Binnenmarkts infrage, der zwingend einer funktionierenden Rechtsgemeinschaft bedarf. Langfristig nagt all dies am Fundament der EU, es besteht Einsturzgefahr.

Was kann die EU dagegen tun?

Als Club mit freiwilliger Mitgliedschaft ist die EU auf eine derartige Herausforderung eigentlich nicht eingestellt. Ihr bleibt aber keine Wahl. Weil das übliche Regelwerk zur Ahndung von Verstößen gegen die Verträge ("Vertragsverletzungsverfahren") zu kurz greift, hat sie sich ein neues Instrument gegeben, um solche Kursabweichungen wie jene Ungarns und Polens zu korrigieren: das Artikel-7-Verfahren. Es wird bei systematischen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Gang gesetzt und kann in letzter Konsequenz zum Entzug der Stimmrechte des betreffenden Landes im Rat der Europäischen Union, dem Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten, führen. Gegen Polen hat die EU-Kommission, gegen Ungarn das Europaparlament ein solches Verfahren angestrengt. Beide sind nicht weit gediehen. Bisher ist nicht einmal "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der EU-Werte festgestellt worden - wegen mangelnden politischen Willens, aber auch, weil alle um die Aussichtslosigkeit des Unterfangens wissen.

Warum funktioniert das nicht?

"Atombombe" wird das Instrument weniger deshalb genannt, weil es so mächtig ist, sondern weil man damit nur drohen und es lieber nicht einsetzen möchte. Es entspricht einer Aufkündigung der Mitgliedschaft, die die Verträge aus gutem Grund nicht vorsehen. Wer mit diesem Instrument konfrontiert wird, sollte besser freiwillig gehen. Insofern ist das Artikel-7-Verfahren im Grunde systemwidrig, sobald es angewendet wird. Leider ist es auch eine stumpfe Waffe. Denn um die Strafe auszusprechen, müssen alle Mitgliedstaaten (außer dem "Sünder" natürlich) zustimmen. Findet der "Sünder" einen Alliierten, bleibt das Verfahren wirkungslos. Polen und Ungarn haben versprochen, einander in diesem Fall zu schützen.

Welchen Weg hat die EU stattdessen gewählt?

Der Ausweg liegt nahe: Ungarn und Polen zählen zu den großen Netto-Empfängern in der EU. Sie erhalten hohe Zuwendungen aus verschiedenen Fonds. 2019 trugen die Transfers 4,5 Prozent zum ungarischen Bruttoinlandsprodukt bei, bei Polen waren es drei Prozent. Deshalb schlug die EU 2017 vor, den neuen Haushalt der EU für die Jahre 2021-2027 mit einer Bedingung zu versehen: Geld aus den Fonds solle nur noch fließen, wenn die Empfänger nicht gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. Die Idee, die auch in Berlin auf Wohlwollen traf, wurde umso populärer, als aus Warschau oder Budapest kein Zeichen des Einlenkens kam. Der ursprüngliche Gesetzesvorschlag, noch von der Juncker-Kommission, sah einen starken Mechanismus vor: Die Kommission selbst könnte einen Verstoß feststellen, der eine Kürzung der Mittel zur Folge hätte; stoppen ließe sich das nur von einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten.

Lange Zeit tat sich wenig. Als die Zeit für die Verabschiedung des neuen EU-Etats knapp wurde, machte Ratspräsident Michel einen Vorschlag, der Ungarn und Polen entgegenkommt. Nun sollte eine qualifizierte Mehrheit der Staaten nötig sein, um bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit finanzielle Sanktionen zu verhängen. Nötig sei zudem, dass ein "hinreichend direkter" Zusammenhang mit finanziellen Interessen der EU bestehe. Beides erhöht die Hürden für Sanktionen. Bei einem EU-Gipfel im Juli verständigte man sich zwar auf den neuen Etat, einen 750 Milliarden Euro umfassenden Corona-Wiederaufbaufonds und auch auf den Rechtsstaatsmechanismus. Dessen konkrete Ausgestaltung wurde aber offen gelassen. Die deutsche EU-Präsidentschaft präsentierte im September einen "Kompromiss", wie sie sagte, der sich an Michels Vorschlag orientierte. Das Europäische Parlament konnte eine abermalige leichte Verschärfung erreichen.

Wie reagieren Ungarn und Polen?

In Brüssel dachten viele, die beiden Länder würden, weil auch sie aus dem Corona-Fonds viel Geld erhielten, den Kampf nicht zu Ende kämpfen. Dem kam aber nicht so: Stattdessen haben Orbán und sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki ihre Haltung jüngst noch einmal bekräftigt und ihren Treueschwur erneuert. Der geplante Mechanismus, sagen sie, sei ein "politisches Instrument" voller "vager Definitionen". Sloweniens Premier Janez Janša hat sich als Sympathisant bekannt.

Wie könnte die EU aus der Sackgasse herauskommen?

Zur Abstimmung stehen mehrere Gesetze und Rechtsakte, die zusammenhängen. Für die Verordnung zum Rechtsstaatsmechanismus reicht eine qualifizierte Mehrheit. Der eigentliche neue Haushalt hingegen muss einstimmig verabschiedet werden, ebenso der neue "Eigenmittelbeschluss", der der EU erstmals die Aufnahme eigener Schulden für den Wiederaufbaufonds gestatten soll. Es wird über mehrere Möglichkeiten diskutiert, um das angekündigte Veto der beiden zu umgehen.

Die EU könnte den Rechtsstaatsmechanismus verabschieden, die Haushaltseinigung vertagen (ohne Beschluss fließt das Geld auf der Basis des bisherigen weiter) und den Wiederaufbaufonds als eine Art zwischenstaatlichen Vertrag gründen, ähnlich wie bei der Gründung des Euro-Stabilitätsmechanismus bei der Euro-Rettung. Der Nachteil: Es wäre fast eine Kriegserklärung an Warschau und Budapest. Außerdem bliebe das Europaparlament außen vor. Sinnvoller wäre eine Lösung innerhalb der EU-Verträge: entweder durch die " verstärkte Zusammenarbeit", die es einer Gruppe von Staaten ermöglicht voranzugehen, wenn eine Blockade droht. Diese Lösung wird von der EU-Kommission favorisiert, angeblich neigt ihr auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu. Oder indem der Fonds auf der Basis der Regeln geschaffen wird, die speziell für die Mitglieder der Euro-Zone gelten. Oder, der derzeit wahrscheinlichste Weg: Alle anderen Staaten könnten den Corona-Fonds über freiwillige nationale Garantien finanzieren, so wie bei der EU-Arbeitslosenversicherung "Sure".

Was passiert in den kommenden Tagen und Wochen?

Alle Vorschläge wurden schon ausprobiert, sie sind nicht nur Theorie. Verhandlungstaktisch geht es nun aber eher darum, Ungarn und Polen zu signalisieren, dass sie in Wahrheit keine "echte" Vetomacht haben. Dafür müssten alle anderen aber zusammenhalten und klare Kante zeigen, was kaum zu erwarten ist. In den kommenden Tagen wird hinter den Kulissen ausgereizt, wie weit beide Seiten zu gehen bereit sind. Man denke an die Autofahrt Richtung Abgrund im Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun": Wer zuerst aus dem Wagen springt, verliert.

Ende kommender Woche werden die Staats- und Regierungschefs sich dann zu einem Gipfel treffen und eine Lösung suchen. Merkel fällt, weil Deutschland die Ratspräsidentschaft innehat, eine Schlüsselposition zu. Sie hat schon Bereitschaft signalisiert, Ungarn und Polen noch weiter entgegenzukommen. Andere Staaten, etwa die Niederlande, sind dazu nicht bereit. Bei der Rechtsstaatlichkeit dürfe man keine Kompromisse machen, sagen sie. Das niederländische Parlament hat Premier Mark Rutte dazu verpflichtet, gegen eine Schwächung des Mechanismus ebenfalls sein Veto einzulegen.

Hinter den Kulissen wird über einen anderen, vermeintlich schmerzlosen Ausweg diskutiert: Demnach würden Ungarn und Polen ihre Blockade aufgeben gegen das (heimliche) Versprechen, dass der Rechtsstaatsmechanismus vorerst, also in den laufenden Verfahren, nicht gegen sie angewendet würde. Eine andere mögliche Zusage: dass nicht versucht würde, über den Mechanismus ein bestimmtes Verhalten in der Migrationspolitik zu erwirken.

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