Dávid Dercsényi ist Journalist bei der ungarischen Wochenzeitschrift HVG. Im Juli 2021 bekam er einen Anruf von einem Kollegen, Szabolcs Panyi, der für das Investigativ-Portal Direkt36 arbeitet. Ob er Zeit für einen Kaffee habe, er müsse etwas mit ihm besprechen. Bei diesem Treffen erfuhr Dercsényi, dass drei seiner Telefonnummern - sein aktuelles Diensthandy, ein altes Diensthandy und ein Handy, das er privat gemeinsam mit seiner Frau genutzt hatte - auf einer Liste standen, die Panyi gemeinsam mit einem großen Rechercheteam gerade durchforstete. Der Inhalt: Telefonnummern, die vom ungarischen Staat ohne Wissen der Betroffenen mithilfe der Spionagesoftware Pegasus abgehört worden waren.
Offiziell verkauft die israelische Herstellerfirma NSO Pegasus nur an Staaten, die damit Terroristen oder Schwerstverbrecher überwachen wollen. Das sogenannte Pegasus-Projekt, an dem auch die Süddeutsche Zeitung beteiligt war, deckte im vergangenen Jahr aber den Missbrauch der Überwachungssoftware gegen Oppositionelle in zahlreichen, überwiegend autokratisch regierten Ländern der Welt auf. Wie sich bald herausstellte, standen auch in Ungarn, einem EU-Land, auf der langen Liste der Abgehörten nicht nur Kriminelle, sondern neben Journalisten auch Politiker, Rechtsanwälte, Manager - und sogar ein Leibwächter des Staatspräsidenten János Áder.
Der Überwachungsskandal schlug und schlägt hohe Wellen. Die Vereinten Nation forderten, dass Überwachungstechniken und deren Verkauf transparenter geregelt werden müssten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte mit Blick auf Ungarn, dies sei ein "Verstoß gegen die Medienfreiheit der EU".
Dass er überwacht wurde, hat Dávid Dercsényi nicht wirklich überrascht
Der HVG-Reporter, der nach eigenen Aussagen "eigentlich nur ein kleiner Nachrichtenjournalist ist", überlegte nach der Enthüllung fieberhaft: Warum könnte der Geheimdienst - oder eine andere Behörde - ein solches Interesse an ihm haben, dass er seine Telefone mit einer Spionagesoftware infizieren ließ, die alles mithören und mitlesen, Chats und Passwörter erkennen, Mikrofon oder Kamera einschalten kann? Er habe mal, sagt er der SZ am Telefon, über einen mutmaßlichen Terroristen namens Hassan F. geschrieben, der in Budapest festgenommen worden sei. Vielleicht deswegen? Dercsényi wird es wohl nie erfahren. Überrascht sei er über die geheime Überwachung aber nicht wirklich gewesen: Auch bei HVG habe man immer wieder festgestellt, dass jemand versuchte, in die IT einzudringen oder das Redaktionssystem zu hacken.
Der 48-Jährige ist eines von sechs Opfern der Pegasus-Überwachung (insgesamt gibt es mindestens 300), in deren Namen die Menschenrechtsorganisation Hungarian Civil Liberties Union (HCLU) an diesem Freitag weitreichende rechtliche Schritte setzt. Sie will die ungarischen Behörden zu einer Untersuchung zwingen; gegebenenfalls werde man Klage einreichen bei der Nationalen Agentur für Datensicherheit, so die Präsidentin der NGO, Stefánia Kapronczay. In Israel soll der Generalstaatsanwalt den Verkauf durch NSO an Ungarn aufklären; die Firma hat laut Medienberichten mittlerweile den Vertrag mit Ungarn gekündigt. Da auch ein belgischer Student unter den Klägern ist, der in Ungarn studiert hatte und den die HCLU vertritt, soll eine Beschwerde bei der EU-Kommission und eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingebracht werden.
Politischer Hintergrund: Die HCLU sieht die Nutzung der Spionage-Software gegen Medienvertreter und Oppositionspolitiker als eklatanten Gesetzesbruch an. Die fehlende unabhängige Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen, die in Ungarn von einem Richter oder dem Justizministerium angeordnet werden können, bedeute eine Verletzung von Grundrechten und ermögliche politisch motivierten Missbrauch.
Ungarn hat den Missbrauch der Software mittlerweile eingeräumt
Die ungarische Regierung hatte den Missbrauch der Spionagesoftware erst gar nicht kommentiert, dann dementiert, zuletzt aber eingeräumt. Die Geheimdienste seien "in jedem Fall gesetzeskonform" vorgegangen, sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Verteidigungs- und Innenausschusses, Lajos Kósa, im November in Budapest. Alle weitere Einzelheiten einer Anhörung, auf der Fragen zu den Abhörmaßnahmen diskutiert wurden, unterliegen allerdings bis zum Jahr 2050 der Geheimhaltung. Die Opposition sah in dem Vorgehen ein "ungarisches Watergate", mit dem politische Gegner zum Schweigen gebracht werden sollten.
Die Menschenrechtsorganisation HCLU beklagt "unbegrenzte Möglichkeiten der Überwachung"; Betroffene erführen nichts über die Maßnahmen und hätten daher auch keine Chance, sich rechtlich zu wehren. Indem die NGO jetzt im Namen von sechs Betroffenen klagt, wolle man der Verfolgung politischer Gegner etwas entgegensetzen: Seit Jahren stelle die Regierung Kritiker als "ausländische Agenten oder eine Gefahr für die nationale Sicherheit" dar. Dies sei, so HCLU-Präsidentin Kapronczay, "inakzeptabel".