Ungarn:Orbán experimentiert mit der Abschaffung der Freiheit

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban 2018 in Brüssel

Viktor Orbán (Mitte), Ministerpräsident von Ungarn, bei einem Treffen der Europäischen Volkspartei vor dem EU-Gipfel.

(Foto: dpa)

Der jüngste Hilferuf ungarischer Wissenschaftler droht ungehört zu verhallen. Wer die Demokratie in Europa retten will, muss den Ministerpräsidenten bremsen.

Von Karl-Markus Gauß

Es muss vieles geschehen, bis sich eine ehrwürdige Akademie, die vor fast 200 Jahren gegründet wurde und dem geistigen Fortschritt der Nation verpflichtet ist, mit einem verzweifelten Protest an die europäische Öffentlichkeit wendet. Und doch hat die Magyar Tudományos Akadémia, die Ungarische Akademie der Wissenschaften, genau diesen Schritt getan: Sie, die in ihrer Geschichte von jedem autoritären Regime bedrängt wurde, hat einen dramatischen Appell veröffentlicht. Sie tat das aus Sorge um die wissenschaftliche Freiheit in ihrem Land und in der Hoffnung, dass der Aufruf über Ungarn hinaus dringen und jene, die ihn vernehmen, zu Akten der Solidarität und Hilfe veranlassen werde.

Da und dort wurde tatsächlich von diesem Notschrei kurz berichtet, aber von einer breiten Rezeption, geschweige denn der Unterstützung durch Persönlichkeiten, Institutionen, Regierungen anderer Länder kann nicht die Rede sein. Ungarn, so scheint es, ist den Europäern nicht wichtig genug, dass sie es als Angriff auf ihre eigenen Werte verstünden, wenn dort die Freiheit der Presse, Künste und Wissenschaften nach und nach abgebaut und endlich rundweg einkassiert wird.

Viktor Orbán hat mitten in Europa ein staatliches Versuchslabor eröffnet, in dem keineswegs im Geheimen mit der Abschaffung der bürgerlichen Demokratie experimentiert wird. Das Produkt ist unter dem paradoxen Markennamen "illiberale Demokratie" patentiert, was eine geniale Formulierung aus der Abteilung für politische Propaganda ist, so sinnwidrig, als würde sich Algerien als "liberale Diktatur" anpreisen. Nur langsam hat die Brüsseler Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) erkannt, dass sich Viktor Orbán durch Nachsicht und Rücksicht nicht auf demokratische Gepflogenheiten und zivilisatorische Sitten verpflichten lässt. Im Gegenteil, autoritäre Charaktere nehmen die Bereitschaft zum Kompromiss als Zeichen von Schwäche, sodass Orbán jedwedes Zugeständnis nur dazu ermuntert hat, seine Pläne umso rabiater zu verfechten. Mit großer Verspätung hat sich die EVP jetzt doch entschlossen, Sanktionen gegen die Fidesz oder sogar deren Ausschluss aus ihrem Parteienbündnis zu erwägen.

Diesem Beispiel sollten die Europäischen Sozialdemokraten (SPE) folgen, die allzu lange an der Partidul Social Democrat festgehalten haben, jener vorgeblich sozialdemokratischen Partei, die auf einem einzigen ideologischen Fundament gründet: nämlich auf der Korruption, mit der sie sich den halben Staat Rumänien unter den Nagel gerissen hat. Sollten die EVP und die SPE gehofft haben, mit diesen beiden Parteien zwar ungeliebte Schurken im eigenen Lager zu haben, aber immerhin "unsere eigenen Schurken", wie einst ein inoffizielles Motto der amerikanischen Außenpolitik lautete, dann haben sie sich getäuscht.

Man muss rechtzeitig Halt rufen - um die Demokratie zu schützen

Für die Stimmen, die ihnen diese beiden Parteien bei den Wahlen zum europäischen Parlament bisher eingetragen haben, mussten sie allzu teuer bezahlen: finanziell, weil die Granden von Fidesz und der rumänischen PSD sich die Gelder der Europäischen Union in die eigenen Taschen steckten; politisch, weil sie es mit egomanischen Charakteren zu tun bekamen, denen Solidarität fremd, die Lust am auftrumpfenden Regelverstoß hingegen lieb ist; und nicht zuletzt moralisch. Wer eine bürgerliche Mehrheit in Europa halten wolle, müsse eben gelegentlich beide Augen zumachen, so antwortete gereizt ein Abgeordneter der EVP auf die Frage, ob er gerne mit der Fidesz paktiere. Bürgerliche Mehrheit? Das heißt doch, dass die Fidesz offenbar für eine bürgerliche Partei gilt. Und heißt daher auch, dass es nicht prinzipiell gegen bürgerliche Werte verstößt, die Unabhängigkeit von Gerichten, Medien, Universitäten einzuschränken! Wer so denkt, ist bereits dabei zu zerstören, was er zu retten behauptet.

Der fast ungehört verhallte Aufruf der Ungarischen Akademie der Wissenschaften zeigt, wie es mit der schleichenden Abschaffung demokratischer Errungenschaften geht. Der Obrigkeitsstaat will keine Akademie, die der Nation, der Demokratie, dem wissenschaftlichen Fortschritt dient, sondern die der Partei und Regierung des Autokraten pariert. Wie bekommt man Macht über eine unabhängige Institution? Über lauter kleine Schritte, wie die ungarische Demokratie selbst ja nicht mit einem einzigen Gewaltstreich abgeschafft wurde, sondern über eine endlose Serie von Tabubrüchen, Regelverstößen, neuen Direktiven, einfallsreichen Gesetzen ...

Künftig soll es nicht mehr die Akademie sein, die die Forschungsmillionen für zahllose Institute und Projekte verteilt, sondern ein eigens dafür erfundenes Ministerium. Natürlich wird das nicht damit begründet, dass sich die Regierung den Zugriff auf die Forschung sichern möchte, sondern mit dem Wunsch nach gesteigerter "Effizienz" und "Exzellenz" der ungarischen Wissenschaften. Auch in Österreich, und längst nicht nur bei uns, verlangen Politiker der Regierungsparteien mittlerweile, dass der ORF nicht mehr aus den "Zwangsgebühren", sondern jedes Jahr neu aus Mitteln des Budgets finanziert, also unmittelbar vom Wohlwollen der Regierung abhängig werden solle.

Als ich im vergangenen Sommer zu einem literarischen Kongress nach Budapest eingeladen war, haben es mir Dutzende Kollegen, die ich dort traf, fast gleichlautend gesagt: Wir haben es übersehen! Als zu protestieren noch Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, waren wir zu vorsichtig, zu gutgläubig, zu arglos. Jetzt regiert die Angst, denn jeder kann der Nächste sein, der seinen Job verliert, dessen Theater kein Geld, dessen Radiosender keine Lizenz mehr bekommt.

Dennoch ist Ungarn, noch, kein faschistischer Staat. Die Anhänger der Gülen-Bewegung, nein, in Ungarn heißt sie ja Soros-Kampagne, werden beruflich ruiniert und landen auf der Straße - aber nicht im Gefängnis! Der ungarische Autor György Dalos hat gemeint, solange man das Land, in dem man lebe, als faschistisch bezeichnen könne, ohne verhaftet zu werden, handle es sich noch um kein faschistisches Land. Das leuchtet ein. Und Österreich, das möchte ich bei aller Kritik, die ich habe, ausdrücklich gesagt haben, ist nicht Ungarn. Noch nicht. Aber wenn wir nicht rechtzeitig Halt rufen, kann es geschehen, dass auch wir eines Tages ein paar Schritte zu viel geduldet haben werden.

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Kolumne von Karl-Markus Gauß
Gauß

Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er ist Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Alle Kolumnen von ihm lesen Sie hier.

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