Ungarn:Orbáns große Geste

Hungary's PM Orban and Slovakia's PM Matovic hold joint news conference in Budapest

Ministerpräsident Viktor Orbán will "jedem Gelegenheit geben, sich bei Ungarn für die unfairen Beschuldigungen zu entschuldigen".

(Foto: REUTERS)

Der Regierungschef will seine Corona-Sondervollmachten dem Parlament zurückgeben. Dies beweise seine demokratische Gesinnung. Kritiker sehen darin eine "optische Täuschung".

Von Tobias Zick

Es ist die große Geste, mit der Viktor Orbán Kritiker Lügen strafen will: Jene, die ihm vorwerfen, er baue sein Land nach und nach zur Diktatur um. Der Ausnahmezustand, der es Ungarns Premier seit März ermöglicht, als Alleinherrscher zu regieren, soll zum Samstag enden. Beschließen soll dies, wie es sich für eine Demokratie gehört - illiberal oder nicht, das Parlament. Die Regierung hat dazu einen Antrag eingebracht, über den die Abgeordneten an diesem Dienstag abstimmen sollen. Orbán hat wenig Gründe zu fürchten, dass das von seiner Fidesz-Fraktion dominierte Haus ihm den Wunsch abschlägt.

Der Premier wird also aus freien Stücken die zusätzliche Macht wieder aus der Hand geben, die er sich mit Verweis auf die Corona-Krise gesichert hatte: Ende März verabschiedete das Parlament mit großer Mehrheit ein Gesetz, das den geltenden Notstand auf unbestimmte Zeit verlängerte, es provozierte so scharfe Kritik aus Brüssel.

Das Gesetz machte dem Premier, der seit Jahren den Abbau des Rechtsstaats vorantreibt, den Weg frei, theoretisch auf ewig per Dekret durchzuregieren, am Parlament vorbei. Eine Nummer kleiner ging es nicht, handelte es sich doch um einen völlig neuartigen Feind: das bis dato unbekannten Coronavirus, gegen das man "Ungarns Selbstverteidigung organisieren" müsse, und dies ging, so Orbán, nicht mit den "in Friedenszeiten geltenden Regeln".

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Nun aber sind, in dieser Logik, die Friedenszeiten wieder nah. Ungarn hat den Feind zwar nicht restlos besiegt, aber derart gnadenlos in die Ecke gedrängt, dass man sich nun recht großzügige demokratische Lockerungen erlauben kann. Angesichts relativ weniger Neuinfektionen, so verkündete Orbán Mitte Mai bei einem Belgrad-Besuch, werde er seine Sondervollmachten "dem Parlament zurückgeben". Und er werde "jedem Gelegenheit geben, sich bei Ungarn für die unfairen Beschuldigungen zu entschuldigen".

Aufhebung des Notstands als Trumpf

Ungarn, ständiges Opfer ungerechter Kritik: Diese Linie verficht die Fidesz-Regierung seit Längerem, und die formale Aufhebung des Notstands dient ihr nun als Trumpf. Kurz vor Orbáns Lockerungs-Ankündigung hatte sein Außenminister Péter Szijjártó die Botschafter der fünf nordeuropäischen Länder in Budapest einbestellt und ihnen die "Verbreitung von Falschnachrichten über Ungarn" vorgeworfen.

Die Außenminister Dänemarks, Finnlands, Islands, Norwegens und Schwedens hatten sich in einem Schreiben an den Europarat besorgt geäußert über Ungarns Notstandsgesetz. Szijjártó nannte die Kritik die "bis zur Langeweile bekannten Lügen über den Ausbau der Diktatur, das Streben nach unbegrenzter Befugnis".

Die Formulierung des Außenministers, die Nordeuropäer hätten "Falschnachrichten" produziert, war wohl kaum zufällig gewählt: Neuerdings stehen in Ungarn bis zu fünf Jahre Haft auf das Verbreiten von "Fake News", sofern sie geeignet sind, Menschen in größerem Maß zu "beunruhigen".

Menschenrechtler fürchten, mit den neuen Gesetzen lasse sich das Parlament ganz umgehen

Kritiker sehen die Aufhebung des Ausnahmezustands in erster Linie als PR-Coup der Orbán-Regierung, die sich so als verfolgte Unschuld darstellen könne - während sie zugleich den Demokratieabbau vorantreibe. Drei ungarische Menschenrechtsorganisationen nennen in einer gemeinsamen Erklärung den Schritt "optische Täuschung": Zum einen enthält der Gesetzentwurf, über den das Parlament nun abstimmen soll, nur die Aufforderung an die Regierung, den "Gefahrenzustand" zu beenden - ohne zeitliche Frist; die Regierung kann frei entscheiden, wann.

Auch sieht das Gesetzespaket vor, dass die Regierung künftig den "Gesundheitsnotstand" ausrufen kann, wenn die oberste Amtsärztin dies für angezeigt hält - und ihn ohne Zustimmung des Parlaments immer wieder verlängern. "Wenn die Gesetzentwürfe in ihrer vorliegenden Form verabschiedet werden", schreiben die drei Menschenrechtsorganisationen, ermöglichten sie Orbán "wieder per Dekret zu regieren, diesmal ohne die geringsten rechtsstaatlichen Sicherungen".

Orbáns Amtschef Gergely Gulyás wies dies zurück: Das neue Gesetz werde es der Regierung nicht etwa ermöglichen, regierungskritische Demonstrationen zu verbieten - "entgegen Behauptungen der Soros-Organisationen". Der ungarischstämmige US-Milliardär George Soros ist Lieblingsfeind der Fidesz-Regierung; es gehört zu ihrem Repertoire, Kritiker zu verunglimpfen, indem sie ihnen unterstellt, dass Soros sie steuere. Selbst der frühere EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker erschien schon mit George Soros auf Schmäh-Plakaten der Regierung.

Ungarns Regierung bereitet ihre achte große "Volksbefragung" vor

Indes zeichnet sich neuer Konfliktstoff mit Brüssel ab: Ungarns Regierung bereitet ihre achte große "Volksbefragung" vor. Bürgerinnen und Bürger bekommen eine Liste mit 13 Fragen zugeschickt, die sie bis Mitte August beantwortet zurückschicken sollen. Abgefragt wird zunächst, welche Maßnahmen bei einer zweiten Corona-Welle befürworten würden - Bewegungseinschränkungen, Grenzschließungen oder gesonderte Einkaufszeiten für Menschen über 65.

Auch dieser Fragebogen kommt nicht ohne Referenz an Soros aus; es geht um dessen Vorschlag, die EU solle "ewige Anleihen" aufnehmen, um gemeinsam die gewaltige finanzielle Belastung durch die Corona-Pandemie zu stemmen. "Lehnen Sie George Soros' Plan ab, der unser Heimatland für einen unabsehbar langen Zeitraum verschulden würde?", so die mit "Ja" oder "Nein" zu beantwortende Frage.

Zudem behauptet das Papier, "Brüssel" bereite eine "Offensive" gegen Teile der Verfassung Ungarns vor: "Sie wollen uns zwingen, die Grundgesetzartikel zu ändern, die Migration verhindern. Stimmen Sie zu, dass Ungarns Regierung an ihren Anti-Einwanderungs-Regeln festhalten muss, auch um den Preis eines offenen Konflikts mit Brüssel?"

Dazu sagte EU-Justizkommissarin Věra Jourová: Nein, die EU dränge Ungarn nicht, die Verfassung zu ändern - bei einer solchen Behauptung könne es sich nur um "Fake News" handeln.

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