Süddeutsche Zeitung

Ungarn:"In Ungarn ist alles kaputt"

Manipulative Medien, ein generelles Desinteresse an Politik und apathische Armut: Unsere Autorin sieht die Entwicklung in ihrem Heimatland skeptisch. Und wünscht sich Wut.

Von Vivien Horváth

Bei seiner Reise nach Budapest sagte mein kleiner Bruder einen Satz, den ich nicht vergessen habe: "In Ungarn ist alles kaputt." Die Straßen, die Busse, die Häuser und sogar die Ferienwohnung, alles hatte so viele Makel, dass sie auch einem Vierjährigen nicht entgingen. Denn Ungarn ist das Land, das von allen 28 Mitgliedsstaaten der EU die höchste Pro-Kopf-Unterstützung an Hilfsgeldern aus Brüssel bezieht - aber dies nicht zu Gunsten der Bevölkerung nutzt.

Mein Geburtsort: Schwabach, BRD. So steht es in meinem ungarischen Personalausweis. Meine Eltern kamen kurz vor dem Fall der Mauer nach Deutschland. Das war nicht einfach. In der Familie munkelt man von Agenten und geheimen Helfern. Ich habe keine Heimat, aber irgendwie auch zwei. In Ungarn ist man a német, also die Deutsche. Und in Deutschland bin ich die Ungarin. Genau das bildet mein Personalausweis ab - Zweigeteiltheit. Deshalb zog ich schon mit 16 alleine nach Budapest. Um mich meiner Wurzeln zu vergewissern und sie zu akzeptieren. Sieben Jahre verbrachte ich dort.

Mein Bruder hatte recht: In Ungarn ist tatsächlich alles kaputt. Aber eben diese Mangelhaftigkeit hat mich angezogen nach dem über-perfekten München, wohin meine Familie später gezogen war. Denn die Kreativität, die aus der Not wächst, hat etwas bitterlich Schönes. Ungarn lösen Probleme mit einer beneidenswerten Nonchalance: mit einem Achselzucken und einem "das geht schon so, den Zweck erfüllt es" - danach widmet man sich wichtigeren Dingen, Thema abgehakt.

Diese Grundhaltung hat im Alltag fast schon etwas Philosophisches, Stoisches. In der Politik führt sie, wie man gerade beobachten kann, ins Aus.

Der "Satan" in Brüssel

Ich fahre weiterhin mehrmals im Jahr nach Budapest, immer mit der Bahn. Als der Zug losrattert, schaue ich mir eine Aufnahme aus dem Parlament an, gepostet von einer der letzten regierungskritischen Onlinezeitungen des Landes.

Im ungarischen Parlament hat der Staatssekretär für Energieangelegenheiten, András Aradszki, außerhalb der Tagesordnung den Kampf gegen keinen geringeren als Satan ausgerufen. Nicht im übertragenen Sinne. Der Staatssekretär von den Christdemokraten sieht diesen Kampf als die "christliche Pflicht" des Landes. Soros wolle "das christliche Europa mit der Zwangsbesiedelung von Millionen von fremden Migranten schwächen." Was dagegen helfe? "Der Rosenkranz ist die stärkste Waffe gegen Satan - auch George Soros wird das erfahren müssen!"

George Soros - dieser ungarischstämmige Milliardär und Förderer von Demokratie und Menschenrechten ist für Leute wie Aradszki der Satan, der Brüssel unermüdlich ins Ohr flüstert, was es zu tun hat.

Ich weiß längst nicht mehr, ob ich über die Entwicklungen in meinem anderen Heimatland lachen oder weinen soll. Aber die gefühlte Mehrheit im Land torkelt nicht wie ich zwischen Realsatire und Drama - sie zuckt mit den Achseln und macht weiter wie bisher. Ganz nach dem Motto: "Wird schon wieder, irgendwie."

Hetzende Staatsmedien und Verschwörungstheorien

Sobald der Zug die Grenze von Österreich nach Ungarn überquert, wird man per Durchsage "auf den Niveau-Unterschied zwischen Zug und Bahnsteig" aufmerksam gemacht. Seit ich das das erste Mal gehört habe, denke ich mir jedesmal: Wie treffend, denn es gibt tatsächlich ein deutliches Gefälle zwischen drinnen und draußen.

Hier drinnen die vorwiegend Deutschen und Österreicher im Zug der ÖBB, gut gekleidet und einigermaßen gesund aussehend - da draußen das Schattenland der EU. Vor brüchigen Gebäuden aus dem Sozialismus stehen Menschen, denen man, gelinde ausgedrückt, ansieht, dass sie wenig zum Leben haben.

Der Niveau-Unterschied zeigt sich nicht nur in materiellen Dingen. Auch in den Medien ist er klar zu erkennen. Bei meinem Vater in Budapest angekommen, schalte ich das Staatsfernsehen an und fasse es kaum: eine Stunde geballter Hass. Hass gegen Brüssel, Hass gegen Soros, Hass gegen Flüchtlinge - obwohl Ungarn bis dato keinen einzigen aufgenommen hat. Dennoch macht eben dieses Thema etwa zwei Drittel der Nachrichtensendungen aus.

Die Verschwörungstheorie, Soros würde ganz Brüssel steuern, um Ungarn mit Flüchtlingen zu überfluten, wird auch hier nicht als Spekulation gehandelt - sondern als ein Fakt. Die Belege liefert niemand geringeres als Ministerpräsident Viktor Orbán. Das Ziel von Soros sei ein gemischtes europäisches Volk und die Verurteilung Ungarns, weil es sich gegen Fremdbestimmung wehre, sagte er erst im Herbst in seiner wöchentlichen Radiosendung.

Der Hass des Parlaments ist allgegenwärtig. Die Straßen sind vor den Volksbefragungen wochenlang mit riesigen Plakaten gesäumt. In diesem Sommer stand dort: "Lassen wir nicht zu, dass Soros als Letzter lacht!" Vor einem Jahr las ich: "Lassen Sie uns Brüssel stoppen!" und "Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht ihre Arbeit wegnehmen!" Ein anderes Motiv zeigte eine junge Frau, mit langen dunkelblonden Haaren, die sagt: "Wir wollen keine illegalen Migranten in Ungarn".

Jedes Plakat ein Samen von Angst, der scheinbar zwangsläufig in den Herzen aufkeimt. Der äußert sich etwa so: Ein Pensionsbesitzer in Öcsény wollte im September einer Flüchtlingsfamilie ein Zimmer für deren Urlaub bereit stellen. Als das rauskam, drohten ihm die Dorfbewohner, ihn zu köpfen. Später zerstachen sie die Reifen seines Kleinbusses. Was Orbán dazu sagte? "Richtig so, dass die Anwohner ihre Meinung laut und deutlich kundtaten." Also? Achselzucken, was sonst.

Ich will mich mit Freunden treffen und steige in die U-Bahn. Die Tür geht auf und auch hier schlägt mir der Hass entgegen: In der gesamten U-Bahn schreien Plakate "Stoppt Brüssel!". In mir kocht die Wut hoch: "Du schreibst 'Stoppt Brüssel' in eine U-Bahn, die auch von der EU bezahlt wurde? Die Hand beißen, die dich füttert? Ernsthaft, Viktor?"

Rot vor Wut komme ich dann in einer der unzähligen Studentenkneipen an (die ungarische Jugend hat zweifelsohne ein massives Alkoholproblem, möglicherweise versucht sie, Aussichtslosigkeit mit Schnaps zu verdrängen). Kaum bin ich zur Tür herein, fange ich an zu schimpfen, was eigentlich abgeht in diesem Land: "Es wird jedesmal nur schlimmer, wenn ich hierher komme."

Die Antworten verblüffen mich nicht mehr. Ein Bekannter sagt: Gut so, es sollte radikaler werden - er wähle das nächste Mal die rechtsextreme Jobbik-Partei. Zwei sagen gar nichts. Achselzucken. Eins zu zwei: ein genaues Abbild des politischen Diskurses in Ungarn. Nach ein paar Wortwechseln wird das Thema mit "Reden wir nicht über Politik" beendet. Ebenfalls symptomatisch für Ungarn. Als ob die jetzige Politik auch nur ein Provisorium wäre, über dessen Schönheit sich zwar streiten ließe, das aber doch seinen Zweck erfülle.

"Merken sie es?"

Dabei habe ich als Kind Ungarn als sehr politisch wahrgenommen. Wir hatten ein kleines Ferienhäuschen im Süden. Jeden Sommer fuhren wir aus München dorthin, die ganzen Ferien lang. Ich habe es geliebt, vor allem die nächtlichen Diskussionen der Erwachsenen bei Weißweinschorle draußen auf der Veranda. Alles klang geheimnisvoll und groß. Heute vermute ich, dass das wohl der Zauber des Neuen war: In den Neunzigern, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, gab es neuen Mut. Der Hoffnung zu lauschen, war die angenehmste Art einzuschlafen.

Ein bisschen glaube ich heute noch daran, dass die Ungarn im Kern politische Menschen sind - und das nur vergessen haben. Oder, dass sie zumindest merken, dass sie von dieser Regierung und diesem Ministerpräsidenten belogen werden.

Aber merken sie es? Wenn doch sogar die rechtsextreme Jobbik-Partei meint, die große Soros-Saga sei nur eine Erfindung von Orbán, um von den wahren Problemen abzulenken? Merken sie es, wenn plötzlich alle um Orbáns Familie herum zu Luxusimmobilien und Firmen kommen? Oder wenn eigens für die Hochzeit seiner Tochter eine kaputte Straße endlich mal saniert wird? Merken sie es, wenn die Nachrichten zum millionsten Mal über Flüchtlinge sprechen, die sich nicht mal im Land befinden? Merken sie es? Merken sie es?

Ich hab manchmal das große Bedürfnis, sie einfach alle wachzurütteln. Die zwei von drei, die in Ungarn politisch schlafen, sich der Apathie hingegeben haben, den Glauben aufgegeben haben, dass aus diesem schönen Land irgendetwas werden könnte. Das ewige Gezucke mit den Achseln reicht bis nach Brüssel, über Deutschland. Weil hier alle mit Trump und Erdogan abgelenkt sind, kann sich Orbán bei der CSU als "Grenzschutzkapitän" feiern lassen und Flüchtlinge mit Terroristen gleichsetzen - und keiner widerspricht. Da schließt ein EU-Land seine Bürger langsam wieder hinter hohen Mauern ein und überlässt sie der geistigen Verwahrlosung. Es gibt keinen Aufschrei, also merkt es kaum jemand. Es gibt nur die politische Apathie.

Ich hingegen wünsche mir Wut. In Ungarn, Deutschland, in Brüssel und auch anderswo. Wut angesichts dieser unsagbaren Dreistigkeit, mit der Viktor Orbán Politik macht. Dabei geht es mir weder um Links oder um Rechts, um politische Gesinnungen - sondern um die Art und Weise, wie die Regierung schamlos Apathie und Hass schürt, um als unersetzbarer Retter zu gelten und dabei die Bevölkerung klein und dumm hält.

Für mich steht jetzt fest: Dieses Jahr werde ich deutsche Staatsbürgerin, die Unterlagen liegen auf meinem Schreibtisch. Meinen ungarischen Personalausweis behalte ich nur, um bei jeder Parlamentswahl etwas gegen die aktuelle Regierung tun zu können. Denn wenn das Achselzucken weitergeht und der Hass weiter aufkeimt, wird sich Ungarn so lange umzäunen, bis es sich ganz abschottet - tatsächlich und im übertragenen Sinne. Und dann ist in Ungarn tatsächlich "alles kaputt". So kaputt, dass ich dem Land nicht mal mehr bittere Schönheit abgewinnen kann.

Die Autorin ist 27 Jahre alt und arbeitet bei SZ.de im Bereich Social Media und Leserdialog.

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