Ungarn:Da ist was faul

Ungarn: Festnahme bei einer Demonstration in Budapest gegen die Steueränderungen der Regierung Viktor Orbáns.

Festnahme bei einer Demonstration in Budapest gegen die Steueränderungen der Regierung Viktor Orbáns.

(Foto: Attila Kisbenedek/AFP)

In Brüssel gilt der ungarische Rechtsstaat als verrottet. Die EU könnte deshalb Milliarden Euro an Hilfen zurückhalten. Budapest will verhandeln, aber viele Europaabgeordnete sind mit ihrer Geduld am Ende.

Von Cathrin Kahlweit, Wien, und Josef Kelnberger, Brüssel

Vor gerade mal einem Vierteljahr hat Viktor Orbán die Parlamentswahlen in Ungarn furios gewonnen. Er hatte dafür tief in die Taschen des Staates gegriffen und teure Wahlgeschenke in Form von Steuernachlässen und Subventionen verteilt. Die Regierungspartei Fidesz nannte ihren Sieg einen Beweis dafür, dass der EU-kritische Kurs von den Bürgern gutgeheißen werde.

Jetzt hat die Party ein abruptes Ende gefunden. Denn Fidesz kann die Wahlgeschenke nicht mehr bezahlen, der Forint befindet sich im freien Fall, der Orbán-Regierung geht das Geld aus. Das Versprechen, der Staat werde kompensieren, was die EU an Geldern zurückhält, hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Familien, bisher steuerlich stark gefördert, werden Kürzungen hinnehmen müssen. Am Dienstag drückte Fidesz zudem eine Steueränderung durch, die Hunderttausende kleine und mittelständische Unternehmen trifft.

Ein stark ermäßigter Steuersatz, KATA genannt, gilt ab September nur noch für Firmen, die ausschließlich Individuen, aber keine juristischen Personen bedienen. Das schlampig gemachte Gesetz hat etwa zur Folge, dass ein Schlüsseldienst, der nicht für einen Mieter, sondern für eine Firma neue Schlüssel herstellt, künftig höhere Steuern zahlen muss. Spontane Demonstrationen und Straßenblockaden überall im Land waren die Folge.

Da käme nun frisches Geld aus Brüssel gerade recht, doch das Verhältnis zu den Institutionen der EU ist zerrüttet. So läuft im Europäischen Rat derzeit ein Artikel-7-Verfahren, das mit einer Suspendierung der Mitgliedschaft wegen Verstößen gegen die Grundwerte der EU enden könnte, zumindest theoretisch. Die Kommission hat zudem diverse Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, die der Europäische Gerichtshof für rechtmäßig befand. Hinzu kommt die Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus, der die Sperrung von Haushaltsgeldern ermöglichen würde. Und, aktuell besonders schmerzlich, die Sperrung von Mitteln aus dem Corona-Wiederaufbaufonds - all das mit Verweisen auf Korruption, Demokratieabbau und Rechtsstaatsverstöße. Es geht, alles in allem, um viele Milliarden Euro.

Für Budapest läuft es, soviel kann man sagen, nicht gut. Am Mittwoch etwa standen vor allem Polen und Ungarn im Blickpunkt, als EU-Kommissarin Věra Jourová ihren Rechtsstaatsbericht über die 27 Mitgliedsländer vorlegte. Es ist der dritte seiner Art, diesmal garniert mit "Empfehlungen". Der Bericht wirkt insofern kurios, als er sich gerade nicht auf Themen beziehen soll, die Gegenstand der bereits laufenden Verfahren gegen die beiden Länder sind.

Den Polen wird also "empfohlen", die Funktion des Justizministers von jener des Generalstaatsanwalts zu trennen, die Vermögensverhältnisse von öffentlichen Angestellten und Parlamentariern offenzulegen und der Zivilgesellschaft das Leben leichter zu machen. Bei Ungarn wird ein robusteres Vorgehen gegen "hochrangige Fälle von Korruption" angemahnt, zudem geht es um die Gängelung kritischer Medien.

Im September wird die Kommission wohl ein Gesetz zur Medienfreiheit in Europa vorlegen

Aber der Rechtsstaatsbericht ist eher der allgemeine Überblick über die großen, demokratiepolitischen Themen in der gesamten EU. Beim Covid-Fonds und beim Rechtsstaatsmechanismus hingegen geht es ums Eingemachte: um die Auszahlung von Geldern nur gegen echte Reformen. Im September wird die Kommission wohl noch ein Gesetz zur Medienfreiheit in Europa vorlegen, den European Media Freedom Act. Jourová räumt ein, auch dieses Gesetz ziele im Wesentlichen auf die unhaltbaren Zustände in Ungarn.

Der polnische Rechtsstaat gilt in Brüssel, trotz aller staatlicher Gängelung der Justiz, als bei Weitem nicht so verrottet wie der ungarische. Und dennoch, so glauben viele, könnte es den Ungarn leichterfallen, im Streit um die Corona-Milliarden der EU entgegenzukommen. Denn während in Polen darüber die Regierungskoalition platzen könnte, muss in Ungarn nur ein Mann zustimmen: Viktor Orbán.

Ungarn hat nach und nach dargelegt, wie man die Probleme lösen will. Die Vorschläge werden derzeit in Brüssel geprüft. Um Fördergelder loszueisen, liegen im Wesentlichen vier Überlegungen aus Budapest vor. Man wolle, heißt es in einem Schreiben, das vergangene Woche einging, die Zahl der Auftragsvergaben mit nur einem einzigen Anbieter reduzieren.

Eine neu zu schaffende juristische Aufsicht soll Gerichte verpflichten können, Korruptionsermittlungen aufzunehmen. Vor Gesetzgebungsverfahren sollen öffentliche Debatten ausgeweitet werden. Und der Energiesektor soll diversifiziert werden. Er sei sich ganz sicher, trompetete Orbán, dass sein Angebot von der Kommission positiv bewertet werde. Regierungsnahe Medien jubeln bereits, eine Einigung sei nahe.

In Brüssel heißt es jedoch zum einen: Der Brief, den die ungarische Regierung als Antwort auf die Eröffnung des Rechtsstaatsmechanismus geschickt habe, werde in der Kommission als völlig unzureichend empfunden. Und was die Corona-Milliarden betreffe, gebe es noch nicht einmal eine Verständigung darüber, welche "Meilensteine" Ungarn zu erfüllen habe - und erfüllen wolle.

Gut möglich, dass die Kommission die Gangart gegenüber Ungarn demnächst also sogar noch verschärft. Was Polen angeht, so gibt es zum Covid-Fonds bekanntlich eine grundsätzliche Einigung. Aber in Brüssel findet man, die polnische Regierung müsse sich noch weiter bewegen, bisherige Maßnahmen reichten bei Weitem nicht aus.

Von der Kommissarin Jourová, Tschechin, hat Orbán wenig Unterstützung zu erwarten. Sie hält bekanntermaßen nichts davon, den beiden "Problemstaaten" der EU, wie sie diese nennt, aus politischen Gründen entgegenzukommen. Anfang Juni stimmte sie daher auch mit Nein, als die Kommission die Milliarden für Polen auf Anregung von Präsidentin Ursula von der Leyen grundsätzlich freigab, verbunden mit strengen Auflagen.

Die Voraussetzungen für Mittelkürzungen seien "übererfüllt"

Zu allem Ärger mit der Kommission kommt immer wieder auch gewaltiger Ärger mit dem EU-Parlament hinzu. In den Augen vieler Abgeordneter handelt die Kommission, was Ungarn angeht, bislang viel zu zögerlich. Erst vergangene Woche war daher in Straßburg ein ausführliches Rechtsgutachten präsentiert worden, das dem Land einen dramatischen Mangel an Transparenz bei der Verwaltung von EU-Mitteln und das Fehlen einer effektiven Strafverfolgungsbehörde bei Betrugsfällen attestiert.

Das Fazit der drei renommierten Juristen, und auch das Fazit eines der Auftraggeber, des Grünen-Abgeordneten Daniel Freund: Die Voraussetzungen für Mittelkürzungen seien "übererfüllt". Das Europaparlament kritisiert ohnehin seit Monaten, dass die EU-Kommission ihre Druckmittel bei Rechtsstaatsverstößen nicht ausreichend nutzt. Zuletzt hat es deswegen eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission eingeleitet; damit soll die Behörde gezwungen werden, das Instrument endlich nicht nur anzudrohen, sondern anzuwenden.

Und dann gab am Dienstag auch noch die Abgeordnete Gwendoline Delbos-Corfield von den französischen Grünen ein Interview im viel gesehenen ungarischen TV-Sender RTL, das landesweit zitiert wurde. Sie war im Auftrag des EU-Parlamentsausschusses für Bürgerrechte, Inneres und Justiz (LIBE) im Frühjahr mit einer großen Delegation nach Ungarn gereist und hatte einen 30-seitigen Bericht erstellt. Im Interview kritisiert sie den Zustand der Demokratie und beklagt, dass ein großer Teil der EU-Gelder im Umfeld von Ministerpräsident Orbán lande. Die regierungsnahe ungarische Zeitung Magyar Hírlap nannte das prompt einen "EU-Feldzug gegen unser Land".

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