Ungarn wird aus den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) austreten: Das verkündete der Leiter der Staatskanzlei, Gergely Gulyás, kurz nachdem Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in Budapest gelandet war. Dieser wird seit November 2024 von dem Gericht in Den Haag per Haftbefehl gesucht; die Ermittler werfen ihm Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge der Kriegsführung im Gazastreifen vor, was die israelische Regierung zurückweist. Da der Strafgerichtshof selbst keine Haftbefehle vollstrecken kann, ist es auf die Mitwirkung seiner Mitglieder angewiesen: Diese müssten den jeweiligen Gesuchten festnehmen, sobald er ihr Staatsgebiet betritt. So steht es im Römischen Statut, auf das sich die Arbeit des IStGH gründet,
Schon kurz nach der Ausstellung des Haftbefehls aber hatten sich politische Töne in die juristische Angelegenheit gemischt. Israels Regierung bezeichnete die Entscheidung der Haager Richter als antisemitisch, und Vertreter mehrerer europäischer Länder, darunter Frankreich, Italien und Polen, deuteten zumindest an, sie würden den Haftbefehl im Zweifelsfall wohl nicht vollstrecken. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nannte die Entscheidung aus Den Haag „ungeheuer dreist, zynisch und völlig inakzeptabel“. Dann lud er Netanjahu demonstrativ ein und fügte hinzu: „Ich garantiere ihm, wenn er kommt, dass das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs in Ungarn keine Wirkung haben wird.“
Ungarn ist das erste EU-Land, das den Strafgerichshof verlässt
Netanjahu bedankte sich damals, im November, für Orbáns „moralische Klarheit“ – und ist der Einladung jetzt gefolgt. Am Flughafen von Budapest empfing ihn am frühen Donnerstagmorgen zunächst Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczky, der auf Facebook schrieb: „Willkommen in Ungarn, Benjamin Netanjahu“. Staatskanzleichef Gulyás erklärte dann, man werde noch am selben Tag das Austrittsverfahren einleiten, „gemäß dem verfassungsmäßigen und internationalen rechtlichen Rahmen“. Dem Statut zufolge tritt ein Austritt ein Jahr nach Kündigung in Kraft. Zuvor allerdings muss noch das ungarische Parlament den Schritt formal beschließen. Das dürfte, wie sich schon an anderen umstrittenen Vorhaben Orbáns gezeigt hat, eher eine Formalie sein.
Die beiden Regierungschefs, denen jeweils autoritäre Tendenzen vorgeworfen werden, pflegen seit Jahren eine große Nähe zueinander. Orbán überzieht regelmäßig den aus Ungarn stammenden jüdischen US-Milliardär George Soros, der einen wesentlichen Teil seiner Börsengewinne in zivilgesellschaftliche Projekte gesteckt hat, mit antisemitisch grundierten Schmähungen und Verschwörungserzählungen. Den Vorwurf des Antisemitismus wehrt er gern ab, indem er auf seine freundschaftliche Beziehung zu Israels Dauer-Regierungschef Netanjahu verweist. Dieser nannte die Ankündigung des ungarischen Austritts aus dem IStGH in Budapest eine „mutige und prinzipienfeste Haltung“.
Ungarn ist das erste europäische Land, das aus dem IStGH austritt. 2016 hatten drei afrikanische Staaten – Südafrika, Burundi und Gambia – ihren Austritt verkündet, allerdings hat nur Burundi diesen dann auch vollzogen. Südafrika hatte im Jahr zuvor allerdings gegen das Statut verstoßen, indem es den früheren, vom Haager Gericht angeklagten sudanesischen Diktator Omar al-Baschir ungehindert ein- und wieder ausreisen ließ.
Nach einem Wechsel an der Staatsspitze im Februar 2018 änderte Südafrika seine Position zum IStGH: Der heutige Präsident Cyril Ramaphosa wirft Israel, unter Verweis auf die Erfahrungen in seinem eigenen Land, eine Politik der „Apartheid“ gegen die Palästinenser vor. Den Haftbefehl gegen Netanjahu begrüßte er ausdrücklich und rief alle Mitgliedstaaten auf, ihren „Verpflichtungen unter dem Römischen Statut“ nachzukommen.
Die Orbán-Regierung begründet ihren Schritt mit Aussagen aus Berlin
Ein Sprecher des Gerichts sagte der Deutschen Presse-Agentur, Ungarn sei „weiterhin verpflichtet“, mit dem IStGH zusammenzuarbeiten. Selbst nach vollzogenem Austritt, ein Jahr nach dem Einreichen der Kündigung also, bleiben die Verpflichtungen zur Zusammenarbeit bestehen, die das jeweilige Land während seiner Mitgliedschaft eingegangen ist.
Ungarns Staatskanzleichef Gulyás berief sich dagegen auch auf Deutschland. Ein Sprecher der Bundesregierung hatte im November den Haftbefehl gegen Netanjahu sehr zurückhaltend kommentiert: Einerseits sei man „einer der größten Unterstützer des IStGH“, zugleich sei es eine „Konsequenz der deutschen Geschichte, dass uns einzigartige Beziehungen und eine große Verantwortung mit Israel verbinden“.
Kurz nach der Bundestagswahl im Februar bezeichnete der Wahlsieger, CDU-Chef Friedrich Merz, es als eine „ganz abwegige Vorstellung“, dass ein israelischer Regierungschef Deutschland nicht besuchen könne. Er sei zuversichtlich, dass „wir Mittel und Wege finden werden, dass er Deutschland besuchen kann und auch wieder verlassen kann, ohne dass er in Deutschland festgenommen worden ist“.
Unter Verweis auf solche Äußerungen sagte Gulyás dem Sender Radio Free Europe zufolge: „Wenn ein Land von Deutschlands Größe und Macht denkt, dass es seine eigenen Gesetze missachten muss, weil die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs so absurd ist, was hat das Ganze dann überhaupt für einen Sinn?“
Die geschäftsführende Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sprach hingegen von einem „schlechten Tag für das Völkerstrafrecht“.