Süddeutsche Zeitung

Ungarn:An die Grenzen kommen

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Vor dreißig Jahren öffnete Ungarn seine Grenze für DDR-Flüchtlinge.

Von Daniel Brössler, Berlin

Der Anfang vom Ende begann mit Gulasch und Musik. Ungarische Bürgerrechtler luden für den 19. August 1989 zu einem "paneuropäischen Picknick" an die Grenze zu Österreich. Unter den damals in Ungarn zu Tausenden auf eine Gelegenheit zur Flucht wartenden DDR-Bürgern verbreitete sich die Kunde - und tatsächlich öffnete sich 661 von ihnen damals bei Sopron der Weg nach Westen. "Die ungarische Grenzpolizei beschloss, nicht zu schießen, und das von manchen befürchtete Blutbad fand Gott sei Dank nicht statt", erinnert sich der damals an der Vorbereitung beteiligte spätere CSU-Europaabgeordnete Bernd Posselt. Zwar schloss sich der Eiserne Vorhang noch einmal; nach Geheimverhandlungen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem damaligen ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh öffnete die Budapester Regierung in der Nacht zum 11. September die Grenze aber endgültig.

"Die Grenzöffnung in Ungarn löste eine neue Dynamik aus. Zwei Monate später fiel die Berliner Mauer, das Symbol des Kalten Krieges", würdigt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) am Dienstag dieses Ereignis. Den "mutigen Beitrag Ungarns zur Wiedervereinigung unseres Landes", verspricht er zu Beginn der Sitzung im Bundestag, würden die Deutschen nicht vergessen.

Zum Gegenspieler Merkels wurde Orbán auch innerhalb der Europäischen Volkspartei

Dass Erinnerung an Flucht und offene Grenzen längst eine weitere Facette hat, wenn es um Ungarn und Deutschland geht, lässt Schäuble nur vorsichtig anklingen. 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und 30 Jahre nach dem Mauerfall seien Begegnungen wichtig, sagt er. "Dabei müssen wir nicht immer einer Meinung sein, aber neugierig aufeinander bleiben und uns respektvoll begegnen", bittet Schäuble. Man kann das als zaghafte Andeutung der Tatsache verstehen, dass Deutsche und Ungarn durch die Entwicklungen vor drei Jahrzehnten verbunden sein mögen, über die Ereignisse im Jahr 2015 aber immer noch im Streit liegen. Nicht vergessen sind die Bilder verzweifelter Flüchtlinge, die sich auf der Autobahn zu Fuß auf den Weg nach Österreich gemacht hatten, woraufhin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entschied, die Grenzen nicht zu schließen. Als Verfechter einer Abschottungspolitik wurde Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zum Gegenspieler Merkels in der EU - und ließ die Kanzlerin, unterstützt von seinen Verbündeten aus den Visegrád-Staaten, auflaufen beim Versuch, die Lasten der Flüchtlingsaufnahme in der EU zu verteilen.

Zum Gegenspieler Merkels wurde Orbán auch innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP), der christdemokratischen Parteienfamilie, in der er nicht nur seine restriktive Migrationspolitik verteidigte, sondern auch sein Konzept der "illiberalen Demokratie". Das EU-Parlament attestierte Ungarn im September 2018 eine "systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte". Wie Polen sieht es sich daher einem Rechtsstaatsverfahren ausgesetzt. Im Europawahlkampf eskalierte der Streit auch innerhalb der EVP; die Mitgliedschaft von Orbáns Fidesz-Partei wurde suspendiert. Auch CDU und CSU distanzierten sich.

Ungarns Außenminister Péter Szijjártó, am Dienstag Gast beim Deutsch-Ungarischen Jungen Forum in Berlin, wünscht sich nun so etwas wie einen Neustart in den Beziehungen. Man möge sich, bittet er, trotz Meinungsunterschieden mit gegenseitigem Respekt begegnen. Es ist ein Ansatz, den auch die künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vertritt. "In den mittel- und osteuropäischen Ländern herrscht bei vielen das Gefühl, nicht voll akzeptiert zu sein. Wenn wir die Debatten so scharf führen, wie wir sie führen, trägt das auch dazu bei, dass Länder und Völker glauben, sie seien im Ganzen gemeint, wenn einzelne Defizite kritisiert werden", hatte sie nach ihrer Wahl im Juli der Süddeutschen Zeitung gesagt. Volle Rechtsstaatlichkeit sei "immer unser Ziel", aber keiner sei perfekt. Die Debatten müssten sachlicher werden. Helfen soll dabei ein neues Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Künftig sollen sich alle EU-Staaten einem "Monitoring" unterziehen, damit nicht Einzelne sich an den Pranger gestellt fühlen.

In Ungarn sei man "stolz darauf, dass wir unser Ungarntum bewahrt haben", sagt Szijjártó

Beim gemeinsamen Auftritt vor jungen Deutschen und Ungarn im Weltsaal des Auswärtigen Amtes bemühen sich Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und sein Gast Szijjártó auch erst einmal um Gemeinsamkeit. "Es waren die Ungarn, die den ersten Stein aus der Mauer brachen. Und wir Deutsche werden das nie vergessen", sagt Maas. "Wir sind stolz darauf, einen Teil dazu beigetragen zu haben, Deutschland und Europa wiederzuvereinigen", entgegnet Szijjártó.

Kritik erspart Maas dem Ungarn allerdings nicht. Auch dank der Ungarn sei "Europa zu einem Garanten für Demokratie und Freiheit, für Toleranz und Menschenrechte geworden", lobt er sie erst. Diese Errungenschaften seien zu verteidigen. Das gelte für "Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit der Presse, der Freiheit der Forschung und der Lehre". Man teile, sagt Szijjártó, das gemeinsame Ziel eines starken Europas. In Ungarn glaube man aber, dass die EU stark sei, "wenn die einzelnen Nationen stark" seien. In Ungarn sei man "stolz darauf, dass wir unser Ungarntum bewahrt haben", und man glaube an ein "Europa der christlichen Werte". Schwach sei es dann, wenn es sich von diesen Werten entferne. Danach verabschieden sich die Minister höflich, angenähert haben sie sich nicht.

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SZ vom 11.09.2019
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