Süddeutsche Zeitung

Unabhängigkeitsreferendum:Rajoy ist in Katalonien in die Falle getappt

  • Am Tag nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien liefern Befürworter Demonstrationen ihres ungebrochenen Widerstands.
  • Aufnahmen von brutalen Polizeieinsätzen haben das Bild des Wahltags in der internationalen Presse geprägt. Doch es wurden wohl nur wenige Katalanen durch die Polizei am Abstimmen gehindert.
  • Die EU-Kommission stärkt Spaniens Regierung den Rücken. Sollten die Ermahnungen nicht fruchten, bleiben Regierungschef Rajoy nur die Absetzung der Regionalregierung nach Artikel 155 der Verfassung - oder neue Verhandlungen.

Von Thomas Urban, Barcelona

Um Punkt 12 Uhr beginnt die Aktion: Demonstranten blockieren Dutzende von Kreuzungen in der Innenstadt Barcelonas. Sie tragen keine Fahnen und keine Spruchbänder, sie klatschen im Rhythmus in die Hände und rufen: "Democràcia!" Ein paar Autofahrer hupen empört, andere steigen aus und schließen sich spontan der Kundgebung an. Nach fünf Minuten werden die Kreuzungen wieder freigegeben.

Es sind kleine Demonstrationen des Ungehorsams am Tag nach dem turbulenten 1-O, wie die spanischen Medien den 1. Oktober salopp nennen. Ansonsten ist in der Innenstadt nichts von den Spannungen um das Referendum über die Unabhängigkeit zu spüren. Es herrscht keine Triumphstimmung, die der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont noch in der Nacht zu verbreiten suchte, als er ankündigte, dass er "in wenigen Tagen" die staatliche Unabhängigkeit Kataloniens verkünden werde.

Vor der Generalitat, dem gotischen Regierungspalast in der Altstadt, stehen nur wenige Dutzend Menschen. Über die Rambla, die Flaniermeile, die vor fünf Wochen Schauplatz eines islamistischen Terroranschlags war, spazieren vor allem Touristen. In den Schulen, die gestern noch Wahllokale waren, in denen Polizisten manche Tür eingetreten und manches Fenster zerschlagen haben, findet wieder normaler Unterricht statt. Die fehlenden Scheiben und Türen sind provisorisch durch Sperrholzplatten ersetzt.

Die Wahlkommission in Barcelona gab in der Nacht das Endergebnis des an vielen Orten massiv von der Polizei gestörten oder gar unterbundenen Urnengangs bekannt: 90 Prozent stimmten demnach für die Loslösung Kataloniens vom Königreich Spanien und 7,9 Prozent dagegen.

Eine andere Prozentzahl aber hat die Stimmung auf Seiten der katalanischen Führung etwas gedrückt: Die Wahlbeteiligung lag bei ganzen 42,3 Prozent. Damit ist bestätigt, dass die Befürworter der Abspaltung von Spanien erneut nicht die Mehrheit der Wahlberechtigten auf ihre Seite bringen konnten. Dies war schon bei den letzten Regionalwahlen 2015 eindeutig der Fall, als die drei Parteien, die kompromisslos für die Unabhängigkeit eintraten, zusammen nur 48 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten.

Nach den Angaben aus Barcelona wurden nur 90 der insgesamt 3215 Wahllokale in der 7,5 Millionen Einwohner zählenden Region von Polizeikräften blockiert. Mit anderen Worten: Die überwältigende Mehrheit der Wähler, die ihre Stimme abgeben wollten, wurde daran nicht gehindert.

Kommentatoren: Rajoy ist in die Falle getappt

Allerdings haben Fotos und Filmaufnahmen von brutalen Polizeieinsätzen das Bild des Wahltags in der internationalen Presse geprägt, was sicherlich von Puigdemont und seinen Mitstreitern einkalkuliert worden war. Bislang wurden allerdings keine Belege dafür präsentiert, dass die spanische Polizei angewiesen war, besonders rücksichtslos vorzugehen. Dass Gummigeschosse abgefeuert wurden und mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgegangen wurde, waren eher Einzelfälle, die aber das Gesamtbild bestimmten.

In dem Sinne, so beklagen es auch Kommentatoren der Madrider Presse, die das Referendum durchweg abgelehnt hat, sei der spanische Premierminister Mariano Rajoy in eine Falle getappt. Er hätte vorher alle Anstrengungen unternehmen müssen, auch durch Verhandlungsangebote, dass es gar nicht so weit kommt.

Doch Rajoy hat sich in dem Konflikt hinter einem einzigen Argument verschanzt: Das Referendum war illegal, das Verfassungsgericht hat sogar alle Vorbereitungen dafür verboten. Überdies drohten Mitglieder seiner Regierung ebenso wie spanische Gerichte für die aktive Unterstützung des Referendums harte Sanktionen an. Der frühere katalanische Regionalpräsident Artur Mas wurde im Frühjahr dieses Jahres wegen zivilen Ungehorsams verurteilt, weil er und seine Mitstreiter 2014 ein nicht rechtsverbindliches Referendum über den künftigen politischen Weg Kataloniens hatten durchführen lassen. Mas darf zwei Jahre kein öffentliches Amt einnehmen. Und er und und seine Mitstreiter sollen fünf Millionen Euro zahlen.

Puigdemonts Unabhängigkeitsprojekt wird jedoch weder von der EU noch einem der größeren EU-Staaten unterstützt. Im Gegenteil: Die Abgesandten der Regionalregierung in Brüssel wurden nachdrücklich ermahnt, dass die spanische Verfassung eine rote Linie sei, die nicht überschritten werden dürfe. Die EU-Kommission stufte das Referendum am Montag als "nicht legal" ein und warnte vor der "Entzweiung und Fragmentierung" durch den Konflikt. Sie forderte beide Seiten zum Dialog auf.

Falls die Ermahnungen aus dem Munde führender EU-Politiker in Barcelona nicht fruchten, bleibt Rajoy ein letztes Mittel, die Unabhängigkeitserklärung zu verhindern: Die Absetzung der Regionalregierung nach Artikel 155 der spanischen Verfassung. Die Voraussetzungen dafür sind zweifelsfrei gegeben: Die katalanische Führung handelt verfassungswidrig.

Formal braucht die Regierung in Madrid dafür die Zustimmung des Senats, des Oberhauses des Parlaments. Diese hat sie sicher, denn dort verfügt die von Rajoy geführte konservative Volkspartei (PP) über die absolute Mehrheit.

Warum Artikel 155 auch keinen Ausweg bietet

Doch bestünde die Gefahr, dass die Mehrheit des Kongresses, des Unterhauses, einer Resolution gegen die Anwendung des Artikels 155 zustimmen würde. Die oppositionellen Sozialisten, die linksalternative Gruppierung Podemos und die Abgeordneten der Regionalparteien aus dem Baskenland und Katalonien, die zusammen über eine Mehrheit verfügen, haben sich bereits in diesem Sinne ausgesprochen. Es wäre eine politische Niederlage für Rajoy.

Auch würde Artikel 155 das Problem nicht lösen. Denn es käme dann zu vorgezogenen Regionalwahlen in Katalonien. Nach dem Stand der Dinge könnten die Verfechter der Unabhängigkeit mit einem deutlichen Sieg rechnen.

Rajoy kann nur hoffen, dass Puigdemont ein offenes Ohr hat für die Ermahnungen aus Brüssel und dass er auch vor der Perspektive einer wirtschaftlichen Isolierung Kataloniens zurückschreckt, da es im Fall einer Unabhängigkeit auch aus der EU ausscheiden würde.

Allerdings weiß Puigdemont auch, dass Katalonien wirtschaftlich stark genug wäre, um allein zu überleben. Spanien hingegen braucht die Wirtschaftskraft Kataloniens. Zudem hat Puigdemont gezeigt, dass er sehr viele Katalanen mobilisieren kann. Am Dienstag sollen noch mehr Kreuzungen blockiert werden, auch die öffentlichen Verkehrsbetriebe haben einen Warnstreik zur Unterstützung der Regionalregierung angekündigt. Auch die Drohung eines Generalstreiks steht ihm Raum.

Wenn es nach der Aufregung um das Referendum in nächster Zeit zu Gesprächen zwischen Madrid und Barcelona kommt, kann Puigdemont gestärkt eine Neuverhandlung des regionalen Finanzausgleichs einfordern. Mit der derzeitigen Regelung fühlen sich die Katalanen zu Recht von Madrid benachteiligt.Es war diese Forderung, die der damalige Regionalpremier Artur Mas 2012 erstmals bei Rajoy vorbrachte, er wurde dafür öffentlich gemaßregelt. Nun aber wird wohl Rajoy hier nachgeben müssen.

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