Die Generalversammlung der Vereinten Nationen folgt immer der gleichen Choreografie. Unberechenbar bleibt sie trotzdem. In dem Saal unter dem goldenen UN-Siegel mit dem Erdkreis und den zwei Olivenzweigen finden 193 Delegationen Platz, so viele, wie die UN Mitgliedstaaten zählt. Jede hat sechs Sitze, egal, wie mächtig das Land ist oder wie klein. Ein Land, eine Stimme, ist das Prinzip in diesen Tagen im September im UN-Hauptgebäude am East River in New York.
Der Präsident der Generalversammlung, Philémon Yang, früher Premier Kameruns, eröffnete am Dienstag die Aussprache der 79. Sitzung. Für den Vorsitz des wichtigsten UN-Treffens im Jahresverlauf hat die Bundesregierung für 2025 die deutsche Diplomatin Helga Schmid nominiert, zuletzt Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Es ist ein Zeichen, welchen Stellenwert Berlin den UN und der regelbasierten internationalen Ordnung beimisst.
UN-Generalsekretär António Guterres beklagte in seiner Eröffnungsrede einen globalen „Wirbelsturm“ von Kriegen und Krisen. Der Zustand der Welt können sich nur bessern, wenn „die Mechanismen zur internationalen Konfliktlösung tatsächlich auch die Probleme lösen“ – ein Verweis auf die Blockade vor allem des UN-Sicherheitsrats. Immer mehr Regierungen glaubten, eine „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte ziehen und internationales Recht einfach ignorieren zu können. Es sei an der Zeit für einen gerechten Frieden in der Ukraine, sagte der UN-Generalsekretär, und er forderte ein Ende der „Kollektivbestrafung des palästinensischen Volkes“ im Gazastreifen und ein Ende der Eskalation in Libanon. Damit hat er die bestimmenden Themen des Treffens gesetzt, das üblicherweise bis Freitag dauert.
Der Tradition gemäß folgten die Vertreter Brasiliens und des Gastgebers USA, in diesem Jahr also die Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und Joe Biden. Lula begrüßte als Erstes die Delegation der Palästinenser, deren Delegation zum ersten Mal unter den Mitgliedern Platz genommen hat. Bisher hatten sie lediglich Beobachter-Status. Der Gruß des Brasilianers ist natürlich als politische Geste gemeint angesichts der Situation im Nahen Osten.
Baerbock spricht mit Chinas Außenminister über Lösungen für die Ukraine
Die Reihenfolge der weiteren Redebeiträge richtet sich unter anderem nach dem Rang, in dem ein Staat vertreten ist. So weit, so berechenbar. Und dennoch ist die Generalversammlung immer gut für Überraschungen. Ihr Präsident setzt zwar ein Motto, an dem sich die Reden orientieren sollen, letztlich kann aber jedes Land zu jedem Thema sprechen. Legende sind in New York die stundenlangen Wutreden des kubanischen Staatschefs Fidel Castro oder von Libyens einstigem Diktator Muammar al-Gaddafi. Diesmal war es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der, vielleicht nicht ganz überraschend, für Aufsehen sorgte. Er zog einen indirekten Vergleich zwischen dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Adolf Hitler. So wie einst eine internationale Koalition Hitler gestoppt habe, müsse heute Israel Einhalt geboten werden.
Schon seit einiger Zeit ist klar, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij die Woche nutzen will, um für seinen „Siegesplan“ zu werben, der offenkundig zu Verhandlungen führen soll und zu einem Ende des seit mehr als zweieinhalb Jahren andauernden russischen Angriffskriegs. Selenskij hat schon an dem vorgeschalteten Gipfel für einen UN-Zukunftspakt teilgenommen, den Deutschland mit ausgerichtet hat. Er traf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag zu einem bilateralen Gespräch. Selenskij stellte Scholz die Initiative unter vier Augen vor, öffentlich machen will er den Plan aber erst nach einem für Donnerstag geplanten Treffen mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus in Washington.
Am Dienstagabend befasste sich auch der UN-Sicherheitsrat erneut mit dem Krieg. Selenskij zeigte sich in der Sitzung skeptisch, was Verhandlungen mit Russland angeht. Russland begehe ein internationales Verbrechen. „Deshalb kann dieser Krieg nicht einfach verschwinden. Deshalb kann dieser Krieg nicht durch Gespräche beruhigt werden“, so der ukrainische Präsident. Er fügte hinzu: „Russland kann nur zum Frieden gezwungen werden, und genau das ist nötig.“ Die Ukraine wisse, „dass manche Menschen auf der Welt mit Putin reden wollen. Aber was könnten sie schon von ihm hören? Dass er verärgert ist, weil wir unser Recht ausüben, unser Volk zu verteidigen? Oder dass er den Krieg und den Terror weiterführen will, nur damit niemand denkt, er hätte Unrecht?“ Dies sei verrückt. Putin habe „so viele internationale Normen und Regeln gebrochen, dass er nicht von sich aus damit aufhören wird.“ Mit Beschlüssen im Sicherheitsrat ist wegen Russlands Vetomacht nicht zu rechnen. An diesem Mittwoch spricht Selenskij dann vor der Generalversammlung.
Dem Vernehmen nach will Selenskij Biden am Donnerstag nochmals um mehr militärische Unterstützung bitten. Vor allem will Selenskij erreichen, dass die USA Einschränkungen für den Einsatz weitreichender US-Waffen gegen Ziele im russischen Hinterland aufhebt. Während das US-Außenministerium dies befürwortet, sind das Verteidigungsministerium und bislang auch der Präsident aus Sorge vor einer möglichen Eskalation skeptisch. Kanzler Scholz jedenfalls hält an seiner ablehnenden Position fest.
Perspektiven für mögliche Verhandlungen waren auch Thema bei einem Gespräch von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Dienstagmorgen mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi. Westliche Diplomaten wollen ausloten, ob bis zum G-20-Gipfeltreffen Mitte November in Rio de Janeiro Fortschritte zu erzielen sind – Peking kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Allerdings wird Putin laut dem brasilianischen Präsidenten Lula nicht teilnehmen; in New York vertritt Außenminister Sergej Lawrow den Kreml.
Zweites bestimmendes Thema ist die explosive Lage im Nahen Osten, Israels Offensive gegen die von Iran unterstützte Hisbollah-Miliz in Libanon ebenso wie die Situation im Gazastreifen. Und die Versuche der USA, zusammen mit Katar und Ägypten eine Waffenruhe zu vermitteln und im Gegenzug die Freilassung der verbliebenen 101 israelischen Geiseln aus der Gefangenschaft der radikalislamischen Hamas zu erreichen. Die Kritik der moderaten arabischen Staaten unter der Führung Saudi-Arabiens am israelischen Vorgehen wird schärfer, auch aus Europa kommen harsche Worte. Frankreich hat wegen der Lage in Libanon eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates einberufen.
Die USA und andere westliche Staaten versuchen zu verhindern, dass der heftigste Schlagabtausch seit dem Ende des Kriegs 2006 zwischen der Hisbollah und Israel in einen umfassenden Waffengang in der Region mündet. Die US-Regierung wolle „konkrete Ideen“ mit Verbündeten und Partnern diskutieren, um eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern. Ziel sei es, „den Kreislauf von Angriff und Gegenangriff zu durchbrechen“, hieß es aus Regierungskreisen.
Israels Premier Benjamin Netanjahu, der den UN regelmäßig eine einseitige Haltung seinem Land gegenüber vorwirft, könnte, sofern es die militärische Lage zulässt, am Donnerstag in New York sprechen. Die Lage im Nahen Osten war ebenfalls Thema bei einem Treffen der G-7-Außenminister, an dem auch Baerbock am Montagabend teilnahm.
Ob sie in New York den neuen iranischen Außenminister Abbas Araghtschi zu einem bilateralen Gespräch trifft, ist noch offen. Araghtschi war 2015 maßgeblich daran beteiligt, das Atomabkommen auszuhandeln. Er hat dem Westen neue Gespräche angeboten. US-Außenminister Antony Blinken zeigte sich allerdings zurückhaltend. Bei dem Treffen Baerbocks mit Araghtschi dürften neben der Lage im Nahen Osten vor allem Konsularfälle von in Iran inhaftierten Deutschen eine Rolle spielen; Berlin fordert deren Freilassung. Auch die Lieferung von Drohnen und ballistischen Raketen an Russland zur Unterstützung des Angriffskriegs gegen die Ukraine wird wohl Thema sein, sollte es zu dem Austausch kommen. Eine Vereinbarung über neue Atomverhandlungen gilt indes als unwahrscheinlich.
Macron will mit Irans Präsident über die Lage in Libanon reden
In Diplomatenkreisen heißt es, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit dem iranischen Präsidenten Massud Peseschkian zusammenkommen könnte. Frankreich spielt als Vermittler in Libanon eine Rolle und pflegt direkte Kontakte zur Hisbollah. Israel fordert, dass die radikale Miliz der UN-Resolution 1701 Folge leistet, nach der im Grenzgebiet südlich des Flusses Litani nur die libanesischen Streitkräfte und UN-Blauhelme präsent sein dürfen. Das Gebiet war am Dienstag erneut Ziel massiver israelischer Luftangriffe. Die Hisbollah hat in Südlibanon einen Großteil ihrer Kämpfer stationiert.
Auch der seit eineinhalb Jahren währende, äußerst blutige Bürgerkrieg im Sudan wird die Außenminister beschäftigen: Deutschland, Frankreich, die EU und die USA laden Staaten der Region und weitere Verbündete zu einem Treffen ein, nicht jedoch die Kriegsparteien. Derzeit verhindert der Bürgerkrieg, dass die Menschen in vielen Teilen des Landes mit Hilfsgütern versorgt werden können. Eine Lösung des Konflikts erwarten westliche Diplomaten nicht, solange externe Akteure die Parteien mit Waffen und Geld unterstützen.