Die Woche der UN-Generalversammlung im September in New York gilt als diplomatisches Speeddating. Staats- und Regierungschefs tummeln sich am East River, Außenminister und hochrangige Diplomaten. Seit am Dienstag die Aussprache eröffnet wurde, hat die Krise im Nahen Osten in vielen Reden eine große Rolle gespielt. Israel schlägt massive Kritik entgegen, so scharf wie wohl noch nie.
Zugleich aber haben Emissäre wichtiger westlicher und arabischer Staaten in den vergangenen Tagen diskret an einer Initiative gearbeitet, um zunächst dem immer heftigeren Schlagabtausch zwischen der von Iran kontrollierten radikalislamischen Schiitenmiliz Hisbollah in Libanon und Israel Einhalt zu gebieten.
Ergebnis der Bemühungen: ein Aufruf zur Waffenruhe
Was normalerweise wochenlange Pendeldiplomatie erfordern würde, ließ sich in Konferenzräumen im UN-Hauptquartier, in Botschaften und New Yorker Hotelsuiten binnen weniger Tage auf die Beine stellen. US-Präsident Joe Biden beriet mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der hatte zuvor Irans neuen Präsidenten Massud Peseschkian getroffen. US-Außenminister Antony Blinken verhandelte mit den arabischen Partnern, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock telefonierte jede freie Minute, Kanzler Olaf Scholz rief von Berlin aus Libanons geschäftsführenden Premier Nadschib Mikati an – die Liste erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Ergebnis von 48 Stunden Krisendiplomatie im Zeitraffer: der Aufruf zu einer dreiwöchigen Waffenruhe entlang der Blue Line, der Demarkationslinie zwischen Israel und Libanon.
Israelische Kampfjets hatten in den vergangenen Tagen massiv Raketenstellungen der Hisbollah im Süden Libanons bombardiert, mit gezielten Angriffen in Beirut wichtige Militärkommandeure der Miliz getötet und setzten dies auch am Donnerstag unvermindert fort. Die Hisbollah wiederum feuert Raketen auf Israel, vor allem auf das evakuierte Grenzgebiet, am Donnerstag 80 Stück allein auf den Ort Safed im Norden. Mit dem Abschuss einer Mittelstreckenrakete Richtung Tel Aviv hatte sie allerdings demonstriert, dass sie einen größeren Schlagabtausch nicht fürchtet.
Ein Einmarsch Israels in Südlibanon könnte zu einem umfassenden Krieg führen
Die Waffenruhe soll nun Raum schaffen für eine diplomatische Lösung des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah in Libanon und, wenn das gelingt, auch den seit fast einem Jahr andauernden Gaza-Krieg beruhigen. So steht es in der gemeinsamen Stellungnahme, die die USA, Deutschland, die EU, Australien, Kanada, Frankreich, Italien, Japan, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar unterzeichnet haben.
Biden und Macron teilten in einer gemeinsamen Erklärung mit, es sei „Zeit für eine Einigung an der israelisch-libanesischen Grenze, die Sicherheit gewährleistet und es den Zivilisten ermöglicht, in ihre Häuser zurückzukehren“. Der wechselseitige Beschuss seit dem 7. Oktober und insbesondere in den vergangenen beiden Wochen berge die Gefahr eines noch größeren Konflikts und von Schäden für die Zivilbevölkerung.
Israels Generalstabschef Herzi Halevi hatte am Mittwoch angedeutet, dass die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu einen Einmarsch israelischer Truppen in Südlibanon in Erwägung zieht. Sollte es dazu kommen, wäre ein umfassender Krieg im Nahen Osten kaum noch zu vermeiden. Dasselbe gilt, sollten die Hisbollah oder Iran eine massive Salve von Raketen über das Grenzgebiet in Israels Norden hinaus in den Ballungsraum von Tel Aviv feuern.
Israels Premier will am Freitagmorgen in der UN-Generalversammlung reden
Die neue Dynamik in New York speist sich daraus, dass Amerikaner, Franzosen, aber auch die Bundesregierung einen breiten Konsens herstellen konnten für einen Vorschlag zu einer Waffenruhe. Daraus ergibt sich politischer Druck auf Israel, die Hisbollah, Iran. Zugleich scheinen die Kriegsparteien selbst kein Interesse an einem umfassenden Krieg zu haben, in den wohl auch Syrien, der Irak und Jemen hineingezogen würden.
In Diplomatenkreisen hieß es, es gebe Anzeichen dafür, dass Israel und die Hisbollah sich Gespräche vorstellen können, die zu einer Feuerpause führen. Allerdings lehnte Israel Außenminister Israel Katz eine Waffenruhe ab. „Es wird keine Feuerpause im Norden geben“, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst X, Israel werde den Kampf gegen die Terrororganisation Hisbollah fortsetzen, bis die aus dem Grenzgebiet vertriebenen Bürger dorthin zurückkehren könnten. Das Büro von Premier Netanjahu teilte mit, Israel habe keiner Waffenruhe zugestimmt. Der Regierungschef sollte am Donnerstag in New York eintreffen und Freitagmorgen in der UN-Generalversammlung reden.
Zuerst eine Waffenruhe zwischen Israel und Hisbollah, dann im Gazastreifen?
Die USA, Katar und Ägypten versuchen seit Monaten bislang vergebens, eine Waffenruhe für den Gazastreifen zu vermitteln. Netanjahu hat dem nicht zugestimmt, weil er einen Abzug der israelischen Truppen aus dem Philadelphi-Korridor ablehnt, dem Grenzgebiet des Gazastreifen zu Ägypten. Und die Hamas ist nicht bereit, die 101 Geiseln freizugeben, die sie am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt hat und noch immer in ihrer Gewalt hält. Die Hisbollah wiederum will den Beschuss Israels nur einstellen, wenn es eine Waffenruhe im Gazastreifen gibt.
Jetzt ist der diplomatische Ansatz umgekehrt: Eine Waffenruhe zwischen Israel und Libanon soll auch Verhandlungen über einen Geiseldeal erleichtern. Die Erfolgsaussichten sind fraglich. US-Präsident Biden sagte, ein umfassender Krieg sei weiter möglich, aber „ich denke, es besteht auch die Chance – wir sind immer noch im Spiel, um eine Einigung zu erzielen, die die gesamte Region grundlegend verändern kann“. Also eine umfassende Friedenslösung, die auch das Westjordanland einbeziehen müsste.
Dieser Artikel ist um die israelische Reaktion auf die diplomatischen Bemühungen ergänzt worden.