Umstrittenes Urteil in Russland:Putin-Kritiker muss in Psychiatrie

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Michail Kossenko in einem Käfig vor der Urteilsverkündung in Moskau (Foto: AFP)

"Mit diesem Urteil wird zum ersten Mal seit der Sowjetzeit die Psychiatrie für politische Ziele eingesetzt": Der russische Regierungskritiker Michail Kossenko wird zwangsbehandelt. Der 38-Jährige leidet an leichter Schizophrenie - Mediziner sind über die Entscheidung entsetzt.

Von Julian Hans, Moskau

Vielleicht hätte Michail Kossenko besser nicht das Radio angeschaltet an diesem Tag im Mai 2012, der zum Wendepunkt werden sollte im Umgang des russischen Staats mit seinen Bürgern. Und zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Aber Kossenko schaltete das Radio an. Es war der 6. Mai, am nächsten Tag sollte Wladimir Putin zurückkehren in den Kreml und seine dritte Amtszeit als Präsident antreten. Im liberalen Sender Echo Moskaus wurde von einer genehmigten Demonstration berichtet, die am Abend im Zentrum der Hauptstadt stattfinden sollte. Kossenko ging hin.

Am Dienstag hat ein Moskauer Gericht den 38-Jährigen wegen des "Aufrufs zu Massenunruhen" und Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt. Ein Strafmaß verkündete Richterin Ljudmila Moskaljenko nicht; stattdessen schickte sie Kossenko für unbestimmte Zeit zur Zwangsbehandlung in die geschlossene Psychiatrie.

Kossenko ist einer von 28 Männern und Frauen, die angeklagt wurden, nachdem es am Abend des 6. Mai zu Ausschreitungen gekommen war, bei denen mehrere Polizisten verletzt wurden. Die Verfahren gegen sie dienten vor allem dem Zweck, ein Exempel zu statuieren und die Bürger von weiteren Protesten abzuhalten, kritisieren russische Menschenrechtler. Doch Michail Kossenko ist ein besonderer Fall. "Mit diesem Urteil wird zum ersten Mal seit der Sowjetzeit die Psychiatrie für politische Ziele eingesetzt", sagte der Journalist Alexander Podrabinek, der auch als Zeuge vor Gericht ausgesagt hatte.

Der angeblich attackierte Polizist sagt, er kenne Kossenko nicht

Der Schuldspruch erging trotz zahlreicher Widersprüche im Prozess. Videoaufnahmen vom Ort des Geschehens hatten gezeigt, dass Kossenko nur am Rand stand, als es zu Rangeleien zwischen Demonstranten und Polizisten kam. Und selbst der Polizist, der als Geschädigter geladen war, sagte während einer Verhandlung im Sommer: "Ich kenne diese Person nicht."

Russische Psychiater erheben schwere Vorwürfe gegen die Gutachter. Die Expertise, auf die sich das Urteil stützte, sei "völlig aus der Luft gegriffen", sagte Jurij Sawjenko, der Vorsitzende des Unabhängigen Verbands der Psychiater, der über 25 Jahre Russland im Weltverband der Psychiater (WPA) vertreten hat: Auf Grundlage eines Gesprächs von weniger als einer Stunde sei eine bestehende Diagnose über eine leichte Form der Schizophrenie stark verschärft worden zu einer manischen Schizophrenie.

Kossenko war seit zwölf Jahren in psychiatrischer Behandlung. Nachdem er in der Armee schwer verprügelt worden war, wurde er frühzeitig entlassen und erhielt Invalidenrente. Er bekam schwache Neuroleptika und Antidepressiva. Dass die Gutachter nun eine Diagnose veränderten, die ihm über die Dauer von zwölf Jahren ambulanter Behandlung und Beobachtung gestellt wurde, sei ein Unverschämtheit, sagt Sawjenko. Die erweiterte Diagnostik von Schizophrenie diente in der Sowjetunion dem Missbrauch der Psychiatrie zu politischen Zielen. "Das Urteil wurde gefällt, obwohl Kossenko über die ganze Zeit nicht einmal aggressiv wurde. Er wird behandelt, als sei er unzurechnungsfähig, obwohl er sein ganzes Leben lang bis zur Verhaftung ein selbständiges Leben geführt hat."

Ein Mensch, der noch nie in seinem Leben eine Aggression gezeigt habe, der freiwillig, gewissenhaft und regelmäßig zur ambulanten Behandlung ging, könne nicht plötzlich zur psychiatrischen Behandlung zwangseingewiesen werden, weil er angeblich eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, sagte Sawjenko. "Das würde bedeuten, dass sogar die Teilnahme an einer genehmigten Demonstration bereits als aktive Gefährdung ausgelegt würde."

Die Vorwürfe richten sich gegen Mitarbeiterinnen des Serbski-Zentrums für Sozial- und Gerichtspsychiatrie, wo das Gutachten erstellt wurde. Das Institut ist eine Instanz in der forensischen Psychiatrie des Landes, aber eine mit einer belasteten Vergangenheit: In der Sowjetunion wurden die Expertisen der Mitarbeiter eingesetzt, um Regimekritiker für verrückt zu erklären. Als im August 1968 Dissidenten gegen den Einmarsch der Sowjetarmee in der Tschechoslowakei protestierten, wurden sie für schizophren erklärt und hier in der geschlossenen Abteilung interniert.

Das Serbski-Institut legt Wert auf Tradition. In dem grauen Gebäude in der Kropotkinskij-Gasse im Zentrum Moskaus wurde sogar ein Raum als Museum hergerichtet. Eine pensionierte Mitarbeiterin staubt die Ausstellungsstücke zwei Mal in der Woche ab und führt Mitarbeiter und Studenten durch die Ausstellung. Für die Öffentlichkeit ist sie eigentlich nicht zugänglich.

Über die Geschichte von Dissidenten wird nichts gezeigt

An einer Wand hängen Porträts ehemaliger Mitarbeiter in weißen Kitteln, an einer anderen Bilder, die Patienten gemalt haben: Ein Mensch, der über Särge schreitet, ein höllenroter Christus. In Vitrinen ist ausgestellt, was Insassen gebastelt haben: Knetfiguren aus Brot, ein zerrissenes Bettlaken von einem Fluchtversuch, eine selbst gedrehte Kordel, "um einen Arzt zu erwürgen, oder um sich aufzuhängen, das weiß ich nicht", sagt die Aufseherin.

Nur die Geschichte mit den Dissidenten findet sich nirgends im Museum wieder. Sie erinnere sich wohl, sagt die Chefin des Museum, schließlich war sie damals noch im Dienst. Irgendwo lägen wahrscheinlich auch noch Gedichte, die einer während seiner Internierung geschrieben habe. "Aber das waren nur ein paar Leute, was soll man über die schon erzählen."

Jewgenij Makuschkin, der stellvertretende Direktor der wissenschaftlichen Abteilung, verteidigt am Mittwoch seine Mitarbeiter: Es sei Sache des Gerichts, das Gutachten anzuzweifeln, sagt er. Anders als im angelsächsischen Recht kann die Verteidigung in Russland keine Gegengutachten anfordern. Außerdem werde doch in anderen Ländern hart gegen Täter vorgegangen, die Staatsorgane angreifen, fügt Makuschkin hinzu: "In den USA schießen sie gleich. Da ist eine medizinische Behandlung doch viel humaner." Den Vorwurf der Strafpsychiatrie weißt er von sich. Dass Menschenrechtsvertreter Kritik am Urteil übten, sei nur logisch, denn "die verdienen ja ihr Brot damit".

Ljudmila Alexejewa, die 86 Jahre alte Veteranin der russischen Menschenrechtsbewegung, versprach Kossenko noch im Gerichtssaal unter Tränen, alles zu tun, damit er frei kommt. Die Verteidigung kann das Urteil anfechten. Nach den Regeln der Psychiatrie in Russland wird die Zwangseinweisung von Michail Kossenko in einem halben Jahr überprüft.

© SZ vom 10.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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