Süddeutsche Zeitung

Stuttgart 21 besteht Stresstest:Gutachter geben S21 frei - Gegner rufen zum Boykott auf

Der Stresstest ist bestanden, doch damit geht der Ärger erst richtig los: Stuttgart 21 sei um 30 Prozent leistungsfähiger als der jetzige Kopfbahnhof, sagen die Gutachter. Die Bahn wähnt sich am Ziel. Aber die Gegner werfen ihr Schummelei vor - und kündigen die Zusammenarbeit mit Schlichter Heiner Geißler auf. Der argwöhnt in der SZ, die Hardliner hätten sich durchgesetzt.

Michael König, Roman Deininger und Martin Kotynek

Knapp acht Monate nach dem Schlichterspruch haben sich die Fronten in Sachen Stuttgart 21 wieder verhärtet. Die Gegner stehen der Bahn unversöhnlich gegenüber, Schlichter Heiner Geißler hat auf den Konflikt vorerst keinen Einfluss mehr. Eigentlich hatte er allen Beteiligen Zeit geben wollen, das Gutachten der Züricher Verkehrsberater SMA zum Stresstest der Bahn zu evaluieren. Am kommenden Dienstag sollte dann öffentlich verkündet und diskutiert werden, was ohnehin alle ahnten: Stuttgart 21 hat den Stresstest bestanden.

Doch so lange wollte keine Seite warten. Noch bevor die Gutachter ihre Bewertung abgegeben hatten, kündigte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 die Zusammenarbeit mit Heiner Geißler gewissermaßen auf. Die S21-Gegner wollen den Termin am Dienstag boykottieren, sie erklärten die Fortsetzung der Schlichtung für gescheitert und kündigten neue Proteste an.

"In wirtschaftlich optimaler Qualität"

Kurz darauf gab die Bahn bekannt, dass die Gutachter den Stresstest für bestanden erachten. "Wir sind froh über das Ergebnis", sagte Projektsprecher Wolfgang Dietrich. Die Verkehrsberater sind zu dem Schluss gekommen, die Bahn habe in ihrer Simulation bewiesen, dass der neue Tiefbahnhof um 30 Prozent leistungsfähiger sei als der jetzige Kopfbahnhof.

Die geforderten 49 Ankünfte im Hauptbahnhof könnten in der Spitzenstunde in "wirtschaftlich optimaler Betriebsqualität" abgewickelt werden, heißt es in dem Gutachten, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Die vom Schlichter geforderten "anerkannten Standards des Eisenbahnwesens sind eingehalten".

Damit erfüllt die Bahn die Bedingung, die Geißler in seinem Schlichterspruch verkündet hatte. Die Gegner hatten dem Stresstest zugestimmt - doch sie lassen das jetzige Ergebnis nicht gelten.

Am Donnerstagmorgen verkündete das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 im Stuttgarter Rathaus seine Entscheidung, der für Dienstag angesetzten Präsentation fernzubleiben. "Zu unserem Bedauern, aber aus voller Überzeugung" müssten sich die Gegner aus der "Pseudo-Fortsetzung der Faktenschlichtung" verabschieden, sagte Brigitte Dahlbender, eine der Sprecherinnen des Aktionsbündnis.

Kritik an Geißler

Die Bahn habe nur ein "Stresstestle" durchgeführt, kritisierte Dahlbender. "Es wurde ein Schönbetrieb mit geringfügigen Verspätungen simuliert. Die Bahn hat sich geweigert, mit uns über die Grundlagen des Tests zu diskutieren." Eine Diskussion auf Augenhöhe sei deshalb unmöglich, der Informationsstand sei nicht ausgeglichen. Nur um der "großen Bühne willen" wolle das Aktionsbündnis nicht an der öffentlichen Diskussion teilnehmen.

Von der Rolle Geißlers zeigte sich Dahlbender enttäuscht: "Wir haben ihn als nicht mehr so neutral betrachtet wie im Laufe der Faktenschlichterphase", sagte sie. Geißler sei den Gegnern des Projekts zwar "erheblich beigesprungen", als er die Bahn dafür rügte, das Aktionsbündnis nicht an der Ausarbeitung des Stresstests beteiligt zu haben. Allerdings habe Geißler nicht die Konsequenz gezogen und der Bahn mitgeteilt, dass dadurch eine der wesentlichsten Prämissen der Schlichtung verletzt worden sei.

Geißler reagierte verschnupft auf die Aussagen. "Das ist eine irrationale Entscheidung", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Offensichtlich haben sich jene Teile des Aktionsbündnisses durchgesetzt, die den Konfrontationskurs wollen." Die Veranstaltung wäre "eine gute Möglichkeit gewesen, vor großem Publikum die Argumente darzulegen", sagte Geißler. "So bleiben dafür nur Plakate auf Demonstrationen."

Der Schlichter wies auch die Kritik zurück, er habe sich nicht ausreichend für die Wünsche der Gegner eingesetzt. "Ich habe alles getan, damit das Bündnis zu seinem Recht kam." Die Gegner hätten auch keinen Grund, an der Qualität der Arbeit des Gutachters SMA zu zweifeln. "Beide Seiten haben SMA vorgeschlagen." Nun werde der Streit bis zu einer Volksabstimmung weitergehen.

Die Gegner ließen auf ihrer Pressekonferenz keinen Zweifel daran, dass sie sich im Recht sehen - und die Fakten auf ihrer Seite wähnen. Ihre wesentlichen Kritikpunkte:

[] Die Bahn sei von unrealistischen Voraussetzungen ausgegangen. So könne der jetzige Kopfbahnhof deutlich mehr Züge verkraften als die vom Konzern berechneten 37. Der Konzern habe die Zahl bewusst niedrig angesetzt, um den neuen Tiefbahnhof besser dastehen zu lassen.

Egon Hopfenzitz, als Bahnhofsvorsteher 14 Jahre lang Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofs, gab auf der Pressekonferenz des Aktionsbündnisses zu Protokoll, der jetzige Kopfbahnhof verkrafte bis zu 54 Züge in der Spitzenstunde. Um 30 Prozent leistungsfähiger zu sein, hätte Stuttgart 21 in der Simulation folglich 70 Züge abfertigen können müssen. Die Bahn war jedoch bei dem Stresstest von 49 ausgegangen.

[] Heiner Geißler hatte der Bahn auferlegt, sie müsse nachweisen, "dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist". Doch die Note "gut" gibt es in der Bahn-Sprache nicht. Die SMA bescheinigt dem neuen Bahnhof nun "wirtschaftlich optimale Betriebsqualität". Die Bestnote wäre jedoch "Premiumqualität" gewesen. Deshalb halten die Gegner die Leistung des Bahnhofs angesichts der hohen Kosten für zu schlecht.

[] Der Stuttgarter Stadtrat Hannes Rockenbauch, einer der Wortführer des Protests, kritisierte zudem, die Gutachter des renommierten Unternehmens SMA hätten von der Bahn lediglich den Auftrag gehabt, stichprobenartig zu prüfen. Das reiche jedoch nicht aus.

Da sich die Bahn geweigert habe, den Gegnern sowohl den Vertrag mit der SMA als auch die Prämissen des Stresstests vorzulegen, könne von dem Geißler-Motto "alle an einen Tisch, alle Fakten auf den Tisch" keine Rede mehr sein, kritisierte Rockenbach. Für ihn steht fest: Die Fortsetzung der Schlichtung ist "gescheitert". Bei der anstehenden Präsentation handele es sich um eine bloße "Show-Veranstaltung" der Bahn. Bündnis-Sprecherin Dahlbender fügte hinzu: "Dafür geben wir uns nicht her."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1122904
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/mati/hai
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.