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Don't mess with Texas:Amerikas Zukunft entscheidet sich in Texas

Texaner lieben Cowboyhüte, sind ultrakonservativ und kokettieren mit Abspaltung - so weit das Klischee. Über sie zu lachen, wäre dennoch falsch, sagt Autorin Gail Collins. Viele politische Tendenzen begannen hier: die Deregulierung der Banken, der Verzicht auf Sexualkunde. Und auch jetzt verweisen Entwicklungen im Lone Star State auf die Zukunft der USA.

Von Matthias Kolb, Austin

Gail Collins stammt aus Ohio und ist eine Star-Autorin der New York Times. Ihr Bild von Texas war typisch: Die Leute sind ultrakonservativ, lieben Cowboyhüte und kokettieren mit Abspaltung. Doch Collins merkte schnell, wie sehr der "Lone Star State" den Rest der USA beeinflusst. Kaum Regeln für Banken, weniger Wissenschaft in Schulbüchern und kein Sexualkunde-Unterricht - alles begann hier. Sie ist sicher: Nirgends ist der rasante Wandel in der Bevölkerung stärker spürbar.

Auslöser für Collins' Faszination für den ölreichen Staat war ein Video. Im April 2009 schimpfte Gouverneur Rick Perry, der später als vergesslicher Präsidentschaftskandidat berühmt wurde, vor Tea-Party-Fans auf die gierigen Politiker in Washington. Wenn es mit den USA weiter bergab gehe, dann werde Texas über eine Abspaltung nachdenken, so Perry.

"Wir haben früher Unterdrückung nicht gemocht und wir mögen Unterdrückung auch heute nicht", rief der Republikaner, worauf die Menge in Austin mit "secede"-Rufen die Sezession forderte und Schilder mit der Aufschrift "Don't mess with Texas" schwenkte. Collins, die eine populäre Kolumne für die New York Times schreibt, war schockiert und wollte wissen, was hinter der Mischung aus Größenwahn ("Wir sind die Besten") und Paranoia ("Legt euch nicht mit Texas an") steht.

Da Amerikaner zu Texas ein ähnliches Verhältnis haben wie Deutsche zu Bayern, war ihr Sachbuch "As Texas goes..." ziemlich populär. Darin zählt sie nicht nur unrühmliche Statistiken auf, in denen Texas vorne liegt (Zahl der Exekutionen, Anteil der Bewohner ohne Krankenversicherung und ohne High-School-Abschluss), sondern berichtet auch, dass Atheisten dort laut Verfassung keine öffentlichen Ämter übernehmen dürfen oder dass man nirgends in Amerika schneller Auto fahren darf (85 Meilen pro Stunde).

Collins sieht Texas als Beispiel für einen Grundkonflikt der US-Gesellschaft: Wer in Städten (crowded places) wohnt, wählt meist die Demokraten und tut sich immer schwerer, Bewohner der ländlichen Gebiete (empty places) zu verstehen. Wer viel Raum um sich herum hat, der braucht die Regierung nicht und verlässt sich lieber auf sich selbst und seine Waffe. Die Städter seien hingegen kompromissbereiter und zufrieden mit den Leistungen des Staats. Texas nimmt hier zwar eine Sonderrolle ein: acht von zehn Texanern leben in Städten, 60 Prozent im Dreieck der Metropolen Austin, Dallas, Fort Worth, Houston und San Antonio. Doch viele fühlen sich weiter wie Cowboys, die das Pferd durch einen Pick-Up-Truck ersetzt haben (mehr Details in diesem Artikel).

Die 67-Jährige argumentiert überzeugend, dass der Lone Star State den Rest der USA enorm beeinflusst - und das nicht unbedingt zum Guten. Collins nennt vor allem drei Punkte, wie "Texas Amerikas Agenda kapert" (so der Untertitel ihres Buches):

[] Die Deregulierung der Banken begann in Texas. Es waren lokale Sparkassen, die unzählige hochriskante Finanzprodukte kauften. Senator Phil Gramm, der wichtigste Fürsprecher einer Lockerung der Regeln, kam aus Texas. Gramm tat alles, den gerade im Süden verbreiteten Glauben an die Schädlichkeit staatlicher Aufsicht durchzusetzen. Die Folgen sind bekannt: Immobilienblase, Millionen zwangsversteigerte Häuser, Finanzkrise, Rezession.

[] Der ideologisch gefärbte Inhalt der Schulbücher wirkt über Texas hinaus. Nach Kalifornien ist Texas mit 26 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat der USA. Ein Schulbuch, das dem Texas Board of Education gefällt, wird in hoher Stückzahl gedruckt und findet dann oft auch seinen Weg in kleinere Staaten wie Alabama, Arkansas oder Oklahoma.

Und so lesen eben auch nicht-texanische Kinder, was in texanischen Schulbüchern steht. Seit Jahren kämpfen dort Hardcore-Christen, die von ihren Mitbürgern in die Schulbehörde (board of education) gewählt wurden, für weniger Evolutionslehre in Biologie und für die Streichung von liberalem Gedankengut im Geschichtsunterricht. Stattdessen wird versucht, den Kommunisten-Hasser Joseph McCarthy ebenso zu preisen wie die Waffenlobby NRA oder die konservative Heritage-Stiftung. In dieser Angelegenheit wird deutlich: Wer über Texas lacht, macht es sich zu einfach - auch die Privatisierung im Bildungsbereich begann hier.

[] Aufklärung in der Schule? Fehlanzeige! Das Mantra der unbegrenzten Freiheit gilt in Texas in einem Bereich nur bedingt: bei der Sexualität. Das Gebot der Schulbehörde lautet: Abstinenz ist das beste Mittel, um Schwangerschaften zu verhindern. Eine Studie ergab 2009, dass diese Vorgabe in 94 Prozent der Schulbezirke gelehrt wurde, während einige Direktoren Aufklärungsunterricht komplett verbieten. Ihr Argument: "Wenn Teenager über Sex aufgeklärt werden, werden sie es ausprobieren."

Referenten hämmern den Schülern ein, dass Präservative unzuverlässig seien; das Wort Kondom wird nur in einem Schulbuch erwähnt, 41 Prozent des Unterrichtsmaterials enthalten faktische Fehler und die Pille wird nicht von texanischen Stellen bezahlt. Die Folge: Die Zahl der Teenager-Schwangerschaften ist sehr hoch und das Wissen über Verhütung gering. Für die amerikanische Gesellschaft sind jedoch die texanischen Teenager und Kinder besonders wichtig - bald wird jeder zehnte US-Arbeitnehmer in Texas geboren sein.

Laut Collins wäre es für ganz Amerika besser, wenn die nächste Generation der Texaner nicht durch Unwissenheit, sondern nach einer bewussten Entscheidung gezeugt würde - zumal die junge Leute überall nach Jobs suchen werden und viele Mütter staatliche Unterstützung durch das Medicaid-Programm brauchen. Collins' Argument: Was in Texas falsch läuft, betrifft alle.

Nicht nur Collins' bissiger Humor macht ihr Buch auch für deutsche Leser interessant. Sie argumentiert, dass sich im Lone Star State auch demographisch Amerikas Zukunft besichtigen lässt. Die weiße Bevölkerung ist bereits jetzt in der Minderheit, wird 2020 von den Latinos als größte Gruppe abgelöst werden und 2030 wird jeder zweite Texaner lateinamerikanische Wurzeln haben. Texas hat neben seiner Fläche (doppelt so groß wie Deutschland) eine extrem junge Bevölkerung und wächst: Seit 2000 zogen mehr als vier Millionen Menschen in den Staat.

In San Antonio sind bereits heute mehr als die Hälfte der Einwohner hispanics und ihr Bürgermeister könnte als erster Latino Gouverneur werden. Julian Castro wuchs in Armut auf und wurde bekannt, als er 2012 die Grundsatzrede beim Parteitag der Demokraten hielt - so begann auch die Karriere von Präsident Barack Obama. Der ebenso smarte wie gut aussehende Castro ist der Traum eines jeden Polit-Beraters.

Da sich die Republikaner mit Hispanics schwer tun, wollen die Demokraten spätestens 2020 den Republikanern die 38 texanischen Wahlmänner streitig machen. "Wer Präsident werden will, wird sich künftig um Texas bemühen müssen", sagt Obamas Top-Stratege Jeremy Bird.

Noch jedoch ist das Land fest in konservativer Hand, obwohl dort viele Hispanics leben: George W. Bush wurde von 40 Prozent der Latinos gewählt. Auf Druck der Unternehmen zeigt sich Nachfolger Perry flexibel - und erlaubte es den Kindern von illegalen Einwandern, ohne Angst vor Abschiebung zu studieren.

Steve Murdock kümmert sich nicht um Polit-Spielchen. "Die Zukunft von Texas hängt von den Einwanderern ab. Uns wird es gut gehen, wenn viele Hispanics und Afroamerikaner wohlhabend werden", prognostiziert der Soziologe. Vor dieser Herausforderung steht ganz Amerika: Es muss mehr seiner jungen Leute so gut ausbilden, dass sie im globalen Wettbewerb bestehen und gerade die Latinos den Aufstieg in die Mittelklasse schaffen. Sollten es die konservativen Texaner schaffen, sich mit dem "bunteren" Amerika des 21. Jahrhunderts zu arrangieren, wäre viel erreicht.

Das Fazit von Gail Collins fällt daher zwiespältig aus. Ihrer Ansicht nach ist Texas viel zu groß und eigensinnig, um sich vom Rest des Landes etwas diktieren zu lassen. Eines stehe aber fest: "Wenn es in den nächsten Jahren mit Texas bergab geht, dann zieht es uns alle mit nach unten."

Linktipp: Wieso sich tausende Texaner nach Obamas Wiederwahl eine Abspaltung ihres Staates von den USA wünschen, beschreibt dieser Blog-Beitrag von Süddeutsche.de. Die Debatte, die Demokraten in Zukunft wieder die Mehrheit in Texas gewinnen könnten, wird in diesem Meinungsbeitrag für die New York Times gut zusammengefasst.

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