Umstrittene Volksabstimmung:Schweiz riskiert Bruch mit Europa

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Begrenzt die Schweiz die Zuwanderung aus Europa? (Foto: Michael Stahl/dpa)

Sie beklagt "Massenzuwanderung" und unproduktive Ausländer: Die Schweizer stimmen heute über eine Initiative der rechtskonservativen SVP gegen EU-Zuwanderung ab. Es zeichnet sich bereits ein knappes Ergebnis ab. Was bedeutet die Abstimmung - und wo ist überhaupt das Problem? Anworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Hannah Beitzer und Franziska Schwarz

"Es wird eng in unserem Land" - unter diesem Motto hat die national-konservative Schweizerische Volkspartei (SVP) eine Initiative "gegen Masseneinwanderung" gestartet. Heute stimmen die Schweizer darüber ab, ob unter anderem die Zuwanderung von EU-Bürgern in das Land begrenzt werden soll. Es zeichnet sich bereits ein knappes Ergebnis ab, laut einer ersten Hochrechnung 50 Prozent Ja- und etwa gleich viele Nein-Stimmen. Die Wahlbeteiligung habe wahrscheinlich eine rekordverdächtige Höhe erreicht, sagte der Wahlforscher Claude Langchamps, der Chef des Instituts gfs.bern, das im Auftrag des Schweizer Fernsehens SRF 1 die Hochrechnungen vornimmt. Ein Ergebnis erwartet er nicht vor 16 Uhr.

Was will die Volksinitiative "gegen Masseneinwanderung"?

Mit der Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" will die SVP von Christoph Blocher die Zuwanderung von EU-Bürgern in die Schweiz begrenzen. Sie fordert deshalb, dass die mit der EU 2002 vereinbarte Personenfreizügigkeit nachverhandelt wird.

Die Initiatoren wollen, dass die Schweiz die Zuwanderung wieder "eigenständig steuern und kontrollieren" kann und fordern deshalb jährliche Höchstzahlen für Zuwanderer - und meinen damit EU-Bürger, die in die Schweiz ziehen, aber auch Asylsuchende und Grenzgänger.

Die Schweiz habe so attraktive Arbeitsbedingungen, dass das Land kein internationales Abkommen brauche, um "jederzeit" qualifizierte Arbeitnehmer zu finden, die "gerne bei uns arbeiten und leben", heißt es weiter. Schweizer sollen bei der Arbeitssuche den Vorzug haben.

Bisher können EU-Bürger problemlos in die Schweiz ziehen, wenn sie eine Arbeit gefunden haben oder ein ausreichendes Vermögen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts nachweisen können.

Wie viele Einwanderer hat die Schweiz?

Die Schweiz hat im europäischen Vergleich tatsächlich viele Zuwanderer. Im Durchschnitt waren es in den vergangenen Jahre jeweils etwa 80.000 Menschen - vor allem aus der EU. Das acht Millionen Einwohner zählende Land hat mit knapp 25 Prozent einen Ausländeranteil, der fast drei Mal so hoch ist wie in Deutschland. Nur in Luxemburg leben anteilsmäßig mehr Menschen mit einem ausländischen Pass.

Die größte Einwanderergruppe sind die knapp 300.000 Italiener, gefolgt von fast ebenso vielen Deutschen. Dem Staatssekretariat für Wirtschaft in Bern zufolge kamen allein 2013 84.000 mehr Menschen aus EU-Ländern in die Schweiz, als dorthin auswanderten.

Warum gibt es in der Schweiz so viele Ausländer?

In der Schweiz gibt es nicht genügend Fachkräfte, das Land ist eigentlich auf viele Zuwanderer angewiesen. Die Wirtschaft will deswegen weiter aus einem 500-Millionen-Pool an potenziellen Arbeitskräften schöpfen. Schon jetzt arbeiten 20.000 Ausländer in der Schweizer Landwirtschaft, in der Hotellerie kommen 40 Prozent des Personals aus dem Ausland, in den Chemie-, Pharma- und Biotech-Branchen stammen 45 Prozent der Mitarbeiter aus der EU, und gut jeder vierte in der Schweiz praktizierende Arzt ist Deutscher.

Die SVP hingegen bezweifelt, dass nur Hochqualifizierte in die Schweiz kommen, so SVP Mitglied Thomas Matter laut tagesschau.de: "Über die Hälfte der EU-Zuwanderer sind unproduktiv. Ein großer Teil ist einfach Familiennachzug. Es sind etwa sieben Prozent in Ausbildung und mehr als fünf Prozent ohne Arbeitsplatz. Bei etwa zehn Prozent ist der Beruf gar nicht bestimmbar."

Was ist das Problem?

Die SVP macht EU-Einwanderer für viele Missstände in der Schweiz verantwortlich, unter anderem für zu stark steigende Kosten für Sozialhilfe. Sie führt als Beweis an, dass fast die Hälfte der Personen, die in der Schweiz Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe beziehen, Ausländer seien.

Außerdem fürchten viele Schweizer, die Zuwanderung ließe die Mieten und Immobilienpreise steigen - vor allem im Raum Zürich. Dort gibt es die meisten Arbeitsplätze, dorthin ziehen die meisten der gut ausgebildeten (und entsprechend vermögenden) Ausländer. Die Initiatoren beklagen volle Züge, überfüllte Schulen und die Neubaugebiete, die die Schweizer Landschaft verschandelten.

Die Neue Zürcher Zeitung hat im Januar Kosten und Nutzen der Einwanderung gegenübergestellt - und kommt zu dem Ergebnis, dass die Zuwanderer der Schweiz eher nutzten als schadeten.

Was bedeutet die Abstimmung für das Verhältnis zur EU?

Sollte die Initiative angenommen werden, droht der Schweiz erheblicher Ärger mit der EU. Brüssel will einen Verstoß gegen die Freizügigkeitsregeln nicht hinnehmen und stellt den privilegierten Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt infrage. Davon hängt laut dem Unternehmerverband Economiesuisse jeder dritte Arbeitsplatz in der Schweiz ab. Jeden dritten Franken verdiene man im Handel mit der EU. Auch die Freizügigkeit, die für Schweizer Bürger in der EU gilt, könnte dann aufgehoben werden.

Was bedeutet die Abstimmung für das Verhältnis zu Deutschland?

Fast 300.000 Deutsche leben und arbeiten in der Schweiz, besonders viele kommen dabei aus Ostdeutschland. "Fast jeder zweite Deutsche, der in den letzten fünf Jahren ausgewandert ist, ging in die Schweiz", heißt es in einer OECD-Studie vom Jahresanfang. Bereits vor einigen Jahren begann deswegen eine Debatte in dem Land. In Zürich sei auf einmal überall Hochdeutsch zu hören, beklagten einige.

Die SVP startete bereits 2010 eine Kampagne gegen "deutschen Filz" an den Schweizer Hochschulen - viele der deutschen Zuwanderer waren als Professoren und Dozenten an den Unis tätig. Inzwischen verliere die Schweiz für die Deutschen jedoch wieder an Attraktivität, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Grund: Die Wirtschaftslage in Deutschland habe sich verbessert, die Unternehmen hierzulande spürten außerdem langsam den demographischen Wandel und seien bereit, höhere Gehälter für Fachkräfte zu zahlen als noch vor einigen Jahren.

Driftet die Schweiz nach rechts?

Aus der Schweiz kommen immer wieder Nachrichten über fragwürdige Kampagnen der Rechten, die zum Teil erfolgreich waren. Dazu gehört die bereits erwähnte Kampagne gegen deutsche Zuwanderer, aber auch das vieldiskutierte Minarett-Verbot aus dem Jahr 2010.

Teilweise gelingt es der SVP, die Regierung vor sich her zu treiben. 2010 verabschiedete sie Maßnahmen gegen "Lohn- und Sozialdumping", 2013 begrenzte sie für ein Jahr lang Bewilligungen für Langzeitaufenthalte von EU-Bürgern. Und im Januar schloss der Bundesrat EU-Bürger, die zur Jobsuche in die Schweiz einreisen, von der Sozialhilfe aus.

Regierung, Parlament, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände warnen jedoch auf der anderen Seite eindringlich vor der "Initiative gegen Masseneinwanderung". Sie fürchten Fachkräftemangel und einen höheren bürokratischen Aufwand. Beides könnte das Wirtschaftswachstum bremsen. Außerdem fürchten sie, ihren erleichterten Zugang zum EU-Binnenmarkt zu verlieren.

Auch Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, will den Schweizern weder pauschal Rassismus noch EU-Feindlichkeit unterstellen. Zuwanderungsdebatten seien kein rein schweizerisches Phänomen, sagte er der NZZ am Sonntag. Er habe auch Verständnis für die Debatte, weil die Schweiz ein großzügiges Einwanderungsland sei. "Bemerkenswert finde ich, wie differenziert die Diskussion in der Schweiz ablief, gerade im Vergleich zur simplifizierenden Art, wie in anderen Ländern debattiert wurde", sagte Schulz. Dennoch warnte auch er vor den Folgen, die ein Ja zu der Initiative für die Beziehungen zur EU hätten.

Wie geht es weiter?

Unabhängig davon, wie die Abstimmung ausgeht, bleibt das Thema Einwanderung weiter aktuell. Als Nächstes entscheiden die Schweizer Wähler darüber, ob die Freizügigkeit auch für den EU-Neuling Kroatien gelten soll. Im nächsten Jahr dann kommt die ökologisch geprägte Ecopop-Initiative vors Volk. Sie will die jährliche Zuwanderung auf 0,2 Prozent beschränken, um "die natürlichen Lebensgrundlagen" zu sichern.

Mit Material von dpa und Reuters.

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