Der Junge ist jetzt elf Jahre alt, er hat eine Mutter, bei der er lebt, und einen Vater, den er nicht sehen will. Die Eltern hatten sich kurz nach der Geburt getrennt. Und weil der Vater ein, sagen wir, konfliktbereiter Mensch ist, hat sich daran ein Rechtsstreit um das Umgangsrecht des Vaters entzündet, der fast so alt ist wie das Kind. 2010 ordnete das Oberlandesgericht Frankfurt nach fünfjährigem Prozess gelegentliche Treffen zwischen Vater und Sohn an, 2011 rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das Verfahren sei zu lang gewesen, 2014 unterband das OLG persönliche Besuche und erlaubte dem Vater stattdessen Briefkontakte.
In dieser heillos verfahrenen Lage hat nun das Bundesverfassungsgericht ein Machtwort gesprochen. Der Ausschluss des Umgangsrechts - vorerst befristet bis Oktober - sei rechtens, weil damit Gefahren für das seelische Wohl des Kindes abgewendet würden. Ausschlaggebend dafür war, dass der Junge seit 2011 jeden Kontakt zum Vater vehement ablehnt.
So weit, so klar. Interessant an dem Beschluss ist freilich, dass sich Karlsruhe in der Frage, wer von den Eltern in einer derart verfahrenen Situation zurückstecken muss, auf die Seite der Mutter schlägt. Maßgeblich sei der Wunsch des Kindes, und zwar auch dann, wenn er von der Mutter beeinflusst sei. Nur wenn die "manipulierten Äußerungen des Kindes" nicht seinen wirklichen Gefühlen entsprächen, sei ein "Außerachtlassen des beeinflussten Willens" gerechtfertigt. Das heißt: Die Mutter mag mitverantwortlich für die Vater-Aversion des Jungen sein. Das ändere aber nichts daran, dass ein "erzwungener Umgang" mehr schaden als nützen könne.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - der stets die Rechte der Väter gestärkt hat und gleichsam der Erfinder des modernen Umgangsrechts ist - hatte dazu im Januar 2015 etwas ganz anderes gesagt. Es ging um denselben Fall: Weil die Mutter wiederholt Treffen zwischen Vater und Kind boykottiert habe, müsse sie mit einem saftigen Ordnungsgeld zum Einlenken angehalten werden; 300 Euro seien da zu wenig. Das bezog sich zwar auf eine frühere Phase des Streits, weshalb Karlsruhe nun argumentiert, inzwischen sei die Sache so verfahren, dass Zwang nicht mehr das Mittel der Wahl sei. Dennoch treten hier zwei gegensätzliche Meinungen zu Tage, wie der gordische Knoten des Elternstreits zu zerschlagen sei. Die Straßburger Richter halten Zwang für angezeigt, während Karlsruhe davor warnt: Der Junge werde den Druck auf die Mutter als gegen sich selbst gerichtet wahrnehmen, als "Bedrohung seines etablierten Familiensystems". (Az: 1 BvR 3326/14)
Nun ist jeder Fall besonders, solche Lösungsansätze lassen sich nicht verallgemeinern. Allerdings sind die beiden Gerichtshöfe in der Frage "Zwang oder nicht Zwang" nicht zum ersten Mal verschiedener Meinung. 2011 mahnte der Gerichtshof für Menschenrechte in einer ähnlichen Konstellation die Verhängung eines Zwangsgeldes an, "um der Blockadesituation abzuhelfen". Karlsruhe hatte zuvor in dem Verfahren vor einer "massiven Kindeswohlgefährdung" gewarnt, wenn Kontakte zwischen Vater und Kind gegen den Willen der Mutter angeordnet würden. "Die Erzwingung des Umgangsrechts dient nicht dem Zweck, den bösen Elternteil strafen zu wollen."