Süddeutsche Zeitung

Umgang mit totem Gaddafi:Übergangsrat ordnet Untersuchung der Todesumstände an

Die offizielle Version vom Tod Gaddafis lautet: Er starb im Kreuzfeuer. Aber stimmt das? Der Rechtsmediziner, der Gaddafis Leiche obduziert hat, kennt "die Antworten auf alle Fragen", darf sie aber nicht sagen. Ein neues, verstörendes Video heizt Spekulationen um einen möglichen Lynchmord an. Der Übergangsrat reagiert: Eine unabhängige Kommission soll nun die genauen Todesumstände klären.

Vier Tage nach dem gewaltsamen Tod des langjährigen libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi sind die genauen Umstände weiter unklar. Ein Video heizt nun Spekulationen an, wonach es sich doch um einen Lynchmord gehandelt haben könnte. Das amerikanische Online-Magazin Slate berichtet, es handele sich um eine der deutlichsten Dokumentationen von Gaddafis Gefangennahme.

Auch auf diesem Video, das erst vor kurzem im Netz aufgetaucht ist, ist der Vorgang nicht vollständig dargestellt. Es zeigt Gaddafi, wie er unmittelbar nach seiner Festnahme von den Kämpfern der neuen libyschen Führung herumgezerrt wird. Der ehemalige Diktator ist noch am Leben, seine rechte Gesichtshälfte allerdings ist blutüberströmt.

Gerade weil die Aufnahmen scharf und von einer sehr viel besseren Qualität sind als jene Videos, die bislang im Netz kursieren, sind sie besonders verstörend. Zu sehen ist, wie die Kämpfer von mehreren Seiten auf Gaddafi eintreten, er sackt auf die Knie. Die Kämpfer zerren ihn wieder auf die Beine, in unmittelbarer Nähe sind immer wieder Schüsse zu hören. Gaddafi wirkt verwirrt und zuckt mehrfach zusammen, als Schüsse fallen. Die Männer schreien wild durcheinander. Als der Mob ein Fahrzeug erreicht, bricht das Video plötzlich ab. Veröffentlicht wurde es von der Freedom Group TV, einem Zusammenschluss mehrerer Bürgerjournalisten in der libyschen Stadt Misrata.

Der libysche Übergangsrat hat inzwischen eine Untersuchung der genauen Todesumstände angeordnet. Hierzu solle eine unabhängige Kommission gebildet werden, teilte Abdel Dschalil, der Chef des Übergangsrates, auf einer Pressekonferenz in Bengasi mit.

Schaurige Trophäenschau in Misrata

Viele Beobachter halten den Umgang der neuen Führung mit dem Tod Gaddafis für eine wichtige Bewährungsprobe. Sie bemängeln, dass der Leichnam auch Tage nach dem Tod noch zur Schau gestellt wird: In Misrata bilden sich noch immer vor einem Einkaufszentrum meterlange Schlangen von Menschen. Sind es Schaulustige? Menschen, die sich seines Todes mit eigenen Augen vergewissern wollen? Ist es Rachsucht? In der Kühlhalle jedenfalls ist die halbnackte Leiche Gaddafis auf einer blutbefleckten Matratze ausgestellt, daneben die Leichen seines Sohns Mutassim und seines toten Militärchefs Abu Bakr Younis.

Menschen lachen und zeigen das Victory-Zeichen in die Kameras, während sie Schlange stehen, um den toten Diktator zu sehen. Auch Kinder sind unter den Wartenden, berichtet der britische Guardian. Etliche Menschen zücken ihre Handys, um die Leichen zu fotografieren. Unmittelbar nach dem Tod Gaddafis hatte der Chef des Übergangsrats, Mahmud Dschibril, verkündet, es sei ihm egal, was mit dem Körper passiere. Hauptsache, er verschwinde möglichst schnell.

Ein weiterer Sohn Gaddafis, der Zuflucht in Niger gefunden hat, zeigte sich "wütend und schockiert" über "die böswillige Brutalität", die die neue libysche Führung an den Tag lege. Die nach Algerien geflohene Restfamilie Gaddafis verlangte vom Übergangsrat die Herausgabe des Leichnams. Der Körper müsse an Gaddafis Stamm in der Stadt Sirte übergeben werden, um ihn nach islamischem Ritus beerdigen zu können, hieß es in einer Erklärung der Witwe Gaddafis, die der syrische Fernsehsender Arrai verbreitete. Ein Sprecher des Übergangsrats erklärte einem BBC-Bericht zufolge, dass dies möglichst bald geschehen solle.

Gaddafi war am Donnerstag in der Nähe seiner Heimatstadt Sirte zunächst in einem Wasserrohr unter einer Straße entdeckt und lebend gefangen genommen worden. Nach offizieller Darstellung des Übergangsrates sei Gaddafi daraufhin in einen Krankenwagen gebracht worden. Auf der Fahrt nach Misrata sei dieser ins Kreuzfeuer neuer Kämpfe geraten, dabei sei Gaddafi getötet worden. Der Fahrer des Wagens sagte allerdings der Nachrichtenagentur Reuters, Gaddafi sei bereits tot gewesen, als er den Körper in Empfang genommen habe.

Die letzten Tage des Diktators

Ein enger Mitarbeiter Gaddafis schilderte unterdessen in Interviews, wie der einstige Machthaber seine letzten Tage verbrachte. Er habe viel im Koran gelesen sowie Nudeln und Reis gegessen, die seine Helfer aus verlassenen Häusern herbeigeschafft hätten. Der einstige Machthaber habe nie verstanden, warum sich die Libyer gegen ihn erhoben hätten, sagte Mansur Dhao Ibrahim der New York Times.

Gaddafi war diesen Angaben zufolge bis zuletzt bewaffnet. Allerdings habe er nie einen Schuss abgefeuert. Kontakt zur Außenwelt habe er zum Schluss nur über sein Satellitentelefon gehabt, mit dem er TV- oder Radiosender anrief. Immer wieder habe Gaddafi in der verwüsteten Stadt, in der er häufig die Häuser wechselte, geklagt: "Warum gibt es keinen Strom? Warum gibt es kein Wasser?"

Über die tatsächlichen Umstände von Gaddafis Tod soll nun ein Obduktionsbericht Klarheit bringen, der in den kommenden Tagen veröffentlicht werden soll. Dies kündigte der Rechtsmediziner Othman al-Sentani nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP an. Demnach erklärte der Arzt, er habe Gaddafis Leiche in Misrata in der Nacht auf Sonntag untersucht. Es habe sich um eine "komplette Standard-Autopsie gemäß allen wissenschaftlichen Regeln der EU" gehandelt.

Bislang könne er lediglich bestätigen, dass Gaddafi durch Schussverletzungen getötet worden sei; zur Bekanntgabe weiterer Details brauche er die Zustimmung seines Vorgesetzten, des Generalstaatsanwalts.

In dem Bericht fänden sich "Antworten auf alle Fragen", darunter auch die, ob Gaddafi bei Gefechten starb oder gelyncht wurde. Er erwarte, dass er in den kommenden Tagen "grünes Licht" für die Bekanntgabe des Obduktionsberichts erhalten werde, in dem "nichts verborgen" werde, versicherte der Arzt.

Die Untersuchung wurde am Sonntag abgeschlossen, Einzelheiten wolle er aber erst nennen, wenn er den Bericht an den Generalstaatsanwalt übergeben habe, sagte al-Sintani.

Massengrab in Sirte entdeckt

Für Aufklärungsbedarf sorgt unterdessen auch ein Massengrab, das Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Sirte entdeckt haben. Nach Angaben der Organisation sollen Milizionäre des Übergangsrates 53 Anhänger von Ex-Machthaber Gaddafi festgenommen und anschließend getötet haben.

Die Leichen, deren Arme mit Plastikbändern hinter dem Rücken zusammengebunden waren, wurden am Sonntag in der Nähe eines Hotels gefunden. Die Blutspuren, die Einschüsse im Grasboden und die Verteilung der Geschosshülsen würden darauf hindeuten, dass die meisten Opfer gemeinsam an jener Stelle erschossen wurden.

Human Rights Watch forderte deshalb den Übergangsrat auf, "eine unverzügliche und transparente Untersuchung der offensichtlichen Massenhinrichtung einzuleiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen".

Sollte sich die Massenerschießung eindeutig den Anti-Gaddafi-Milizen zuschreiben lassen, dann wäre dies das schwerste Kriegsverbrechen, das diese in ihrem acht Monate langen Kampf gegen das Regime begangen haben.

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