Juli 1954, die Münchner Kammerspiele. Jemand liest bei einer Gedenkveranstaltung aus dem letzten Brief einer Jüdin aus Tarnopol vor, Salomea Ochs, die 1943 von den deutschen Besatzern ermordet wurde. Sie schrieb: "Ich hätte Euch so viel zu erzählen, wie kann man aber all die Greuel und Qualen schildern? Es ist unmöglich."
Ergreifende Worte. Zu den weiteren Rednern im Saal gehört Franz Josef Schöningh, Mitherausgeber der Süddeutschen Zeitung, der fragt, wie "das Böse so ungeheuerliche Ausmaße annehmen konnte, daß unser Vaterland zerfetzt und gespalten wurde".
Es gibt dafür natürlich einige Erklärungen, darunter die: Das Böse nahm solche Ausmaße an, weil Männer wie Schöningh es nach Kräften unterstützt hatten, im seinem Fall sogar als stellvertretender Kreishauptmann des deutschen Besatzungsregimes in Tarnopol.
Dieser Posten gehörte zur Zivilverwaltung, die mit ihren Schreibtischtätern aktiv an der Organisation des Holocaust teilnahm. Schöningh hätte die Gräuel also durchaus schildern können, denn er gehörte zur Seite der Täter, die sie begingen. Aber er schwieg, 1954 in den Kammerspielen und ein Leben lang.
Bekannte Namen in düsterem Lichte
Diese Episode ist typisch für die vergessliche Nachkriegsgesellschaft, für den persönlichen Umgang der Beteiligten mit Schuld - und auch für die Gründerjahre der SZ, wie Knud von Harbou in seinem neuen Buch "Als Deutschland seine Seele retten wollte" sorgfältig herausarbeitet. Seine Studie ist mit aufklärerischer Wucht und verhaltener Wut geschrieben. Denn es geht um seine Zeitung, die Süddeutsche, bei der Harbou, Jahrgang 1946, früher stellvertretender Feuilletonchef war.
Oftmals, wenn Institutionen ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten versuchten, kam nachher etwas heraus mit dem Tenor: Sicher, das sei alles nicht erfreulich, aber anderswo noch viel schlimmer gewesen. Solche Schönfärbereien sind Knud von Harbou fremd. Er selber hat die schreckliche Vergangenheit Franz Josef Schöninghs in seiner 2013 erschienen Biografie des Verlegers enthüllt ("Wege und Abwege").
Hans Schuster, ca. 1970er Jahre Hans Schuster, Süddeutsche Zeitung, in seinem Büro. Undatierte Aufnahme
(Foto: Fritz Neuwirth/SZ Photo)Das neue Buch lässt weitere bekannte Namen der ersten SZ-Jahre in düsterem Lichte erscheinen, vor allem Hermann Proebst, Chefredakteur 1960 bis 1970. Dieser war faktisch, als Publizist in Zagreb, Verbindungsmann des Naziregimes zu dessen faschistischem Vasallenstaat Kroatien gewesen und schrieb rassistische Propagandatexte.
Die SZ berichtete 2014 vorab darüber, was Harbou über Proebst und den früheren SZ-Innenpolitikchef Hans Schuster herausgefunden hat. Schuster verfasste 1939 eine antisemitische Dissertation über die "Judenfrage in Rumänien" und rief darin wenig verhüllt zum Mord auf.
Der liberale Kurs war der SZ nicht in die Wiege gelegt
In diesem Oktober wird die Süddeutsche Zeitung 70 Jahre alt. Der aufklärerische, freiheitliche Kurs, den sie heute für sich beansprucht, war ihr nicht in die Wiege gelegt. "Die Bewusstseinslage wurde - ausgesprochen oder unausgesprochen - vom Umgang mit dem Nationalsozialismus dominiert", schreibt Harbou.
Oder auch: vom Nicht-Umgang, von der berüchtigten "Unfähigkeit zu trauern". Diese Unfähigkeit war auch in der frühen SZ sehr verbreitet, die Vergangenheit wurde von vielen zwar selten geleugnet, aber verdrängt und abgespalten.
Die Liberalen und Antifaschisten, die es anfangs in Redaktion und Verlag natürlich auch gab und die sich später durchsetzten, hatten es deshalb in den Gründerjahren schwer. Erst 1951 erreichten die Autoren Heinz Holldack und Ernst Müller-Meiningen jr., dass die Verschwörer des 20. Juli 1944 nicht mehr als Verräter oder Verbrecher diffamiert wurden.
Im selben Jahr, 1951, demonstrierten wütende Juden in München sogar vor der Redaktion in der Innenstadt, weil sie der SZ und ihren Leserbriefschreibern Antisemitismus vorwarfen. Die Zeitung hatte kommentarlos den Brief eines angeblichen "Adolf Bleibtreu" abgedruckt, der bedauerte, "daß wir nicht alle vergast haben".
Der Leitartikel von W. E. Süskind, auf den sich der Brief bezog, hatte den Hass gegen die Juden zwar kritisiert; dennoch wirkte die "Bleibtreu-Affäre" wie eine "historische Schrecksekunde", wie Müller-Meiningen jr. es nannte. Es war ein Schreck mit Folgen. In die Chefredaktion rückte nun der Lizenzträger Werner Friedmann, der als "Halbjude" den Nazis entgangen war und bis 1945 Berufsverbot gehabt hatte.
Die Herausgeber verweigerten sich der Schuldeinsicht
Der Titel des verdienstvollen Buchs bezieht sich auf die Frage, welche der Schriftsteller Franz Werfel den Deutschen 1945 stellte: Würde ihr Land "seine Seele retten"? Dies sei zwar möglich, aber nur durch "objektive Erkenntnis des Geschehens und subjektive Erkenntnis der Schuld".
Harbou misst die junge SZ an diesen Maßstäben, und sein Urteil ist so hart wie gerecht: "Gerade dieser Schuldeinsicht verweigerten sich die Herausgeber und weitgehend die Gründungsgeneration der Süddeutschen Zeitung entschieden."
Knud von Harbou, Als Deutschland seine Seele retten wollte. Die Süddeutsche Zeitung in den Gründerjahren nach 1945. dtv 2015, 448 Seiten, 26,90 Euro.
Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann rügte die Deutschen für ihr angepasstes Verhalten während der Nazizeit - die SZ zeigte sich empört, nicht über die Deutschen, sondern über ihren größten Schriftsteller.
Adenauers Staatssekretär Hans Globke, unter Hitler Referent für Judenfragen und Kommentator der "Nürnberger Rassengesetze" von 1935, erhielt ein wohlwollendes Porträt des Bonner Korrespondenten Fritz Brühl (allerdings gibt es bis heute die törichte Behauptung, Globke sei eine Art Unschuldslamm gewesen). Und in der SZ wurde, vor allem von Schöningh, fleißig an der Legende gebastelt, alle Welt verhänge die "Kollektivschuld" über alle Deutschen.