Umgang mit Flüchtlingen:Ungarn verkörpert den neuen europäischen Zeitgeist

Wahlen in Ungarn

Der EU-kritische Regierungschef Viktor Orbán hat die ungarische Parlamentswahl im April deutlich gewonnen.

(Foto: dpa)

Das Land von Viktor Orbán galt einst als Schmuddelkind der EU. Heute imitieren europäische Politiker seinen autoritären, fremdenfeindlichen Kurs. Ein Besuch im Versuchslabor der Populisten.

Von Peter Münch, Budapest

An einem heißen ungarischen Sommertag sitzt Gergely Gulyás, natürlich mit Anzug und Krawatte, in seinem weitläufigen Ministerbüro, genießt den Ausblick auf die Donau, genießt die Macht, genießt den Wandel der Zeiten. "Die letzte Wahl hat uns eine starke demokratische Legitimation gegeben", sagt er. "Fidesz ist eine der stärksten Parteien in Europa, und wir sind sehr stolz darauf." Mit der Hand streicht er das Jackett glatt, zufrieden blickt er auf die Fahnen Ungarns und der EU, die in seinem Büro gleich neben der Sitzecke drapiert wurden.

Wer in einer zankenden und zaudernden EU nach einem Ort sucht, an dem Selbstvertrauen verströmt und Kraft demonstriert wird, der landet derzeit schnell in Budapest. Zum einen regiert Viktor Orbáns Fidesz-Partei seit dem erneuten Wahlsieg im April ungestört mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Zum anderen ist der oft gescholtene ungarische Abschottungskurs in der Migrationspolitik spätestens seit dem Brüsseler Gipfel Ende Juni mehrheitsfähig in der EU. "Früher waren wir die schlechten Europäer, und das ist noch nicht das Gröbste, was wir gehört haben", meint Gulyás. "Aber in der Politik darf man nicht darauf warten, dass andere sagen: Du hast recht gehabt."

Das muss ihm wohl auch keiner mehr sagen, denn er ist ohnehin überzeugt davon. Der 36-Jährige, der sein exzellentes Deutsch einem Studium in Hamburg verdankt, ist als "Minister im Amt des Ministerpräsidenten" die rechte Hand von Viktor Orbán. Er organisiert und verkauft die ungarische Politik nach innen und außen, und er weiß, dass er damit gerade einen ziemlichen Lauf hat. Denn Orbán verkörpert den neuen europäischen Zeitgeist, der von rechts her weht, der nationalistisch ist, autoritär und fremdenfeindlich. "Ungarn war in den vergangenen Jahren immer das Land, das traditionelle europäische Werte vertreten hat", sagt Gulyás.

Ausgestrahlt hat Orbáns Kurs mittlerweile nicht nur auf die engste Nachbarschaft der sogenannten Visegrád-Staaten, zu denen neben Ungarn noch Polen, Tschechien und die Slowakei zählen. In Slowenien holte Orbáns Verbündeter Janez Jansa bei der Wahl im Juni die meisten Stimmen. In Österreich ist eine Regierung am Ruder, in der viele Ungarns starken Mann als Leitstern sehen. "Hätten wir die absolute Mehrheit, könnten wir es wie der Orbán machen", verkündete neulich der FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Von der bayerischen CSU wird Orbán ohnehin seit Jahren schon hofiert, und nun sind auch noch in Italien rechte Gesinnungsgenossen an der Macht.

Alle paar Jahre erfindet Orbán neue Schlagwörter, doch sein Ziel bleibt ein Umbau des Landes

Ungarn darf sich also als Vorreiter fühlen in Europa, als Avantgarde in Sachen Retro-Nationalisierung. Wer wissen will, wohin dieser Weg noch führen kann, der tut gut daran, sich anzuschauen, was das inzwischen zur Marke gewordene Wort "Orbánisierung" bedeutet. Weit zurück muss man da erst einmal gehen, zurück in die Wendezeit Ende der Achtzigerjahre, als Viktor Orbán noch die Haare schön hatte, hinten lang und vorne voll, und in einem Budapester Studentenwohnheim den "Bund junger Demokraten" gründete, kurz Fidesz. "Ich denke, dass Orbán damals wirklich liberal war", sagt István Hegedüs, der Orbán von damals kennt. Ein "natürliches Charisma" schreibt er ihm noch zu, "er ist wie Bill Clinton und gibt jedem das Gefühl, dass er nur zu dir spricht". Vor allem aber erinnert sich Hegedüs an Orbáns unbedingten Willen zur Macht, angetrieben von "einer Mischung aus Pragmatismus und Mission".

Hegedüs war ein enger Weggefährte Orbáns, seit Ende 1988 Mitglied im Fidesz-Präsidum, von 1990 bis 1994 Fidesz-Abgeordneter im Parlament. Doch die Wege trennten sich alsbald, weil Hegedüs, der Soziologe und heutige Präsident der Ungarischen Europa-Gesellschaft, ein Liberaler geblieben ist, während Orbán schon Anfang der Neunzigerjahre den Weg nach rechts einschlug. In seiner "ersten ideologischen Wende", so erklärt Hegedüs, habe Orbán sich den Konservativen zugewandt. Erst später seien die nationalistischen und schließlich die populistischen Elemente dazugekommen. Konstant aber sei das "Feindbild" geblieben: "Das sind die Liberalen, die die Wahrheit nicht verstehen wollen. Das ist bei ihm wie eine Obsession."

Schon wenige Jahre nach seiner konservativen Wende wurde Orbán 1998 zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt - und nach vier Jahren gleich wieder abgewählt. Hegedüs zufolge zog er daraus eine simple Lehre: "Ich war zu schwach." Fortan also zog Orbán, der sich schon auf dem Schulhof einen Ruf als Raufbold erworben hatte, kompromisslos und mit aller Härte gegen seine politischen Gegner in den Kampf. Seinen Wahlsieg 2010 stellte er unter das Motto einer "nationalen Revolution". Zur Wiederwahl 2014 rief er die "illiberale Demokratie" aus. Und seit dem Triumph 2018 predigt er die "christliche Demokratie".

Alle paar Jahre gibt es also eine neue Terminologie, doch dahinter steckt immer das gleiche Programm zum Umbau des Landes. Zoltán Szente, ein bedächtiger Rechtsprofessor aus Budapest, hat mit Forscherehrgeiz nach einer Definition für diese Regierungsform gesucht: "Sie weist noch bestimmte Institutionen der ehemaligen liberalen Demokratie auf, aber viele Grundrechte wurden schon abgeschafft", erklärt er. Vor allem aber zeichne sie sich dadurch aus, "dass die Regierung nicht mehr wirklich abgewählt werden kann". In der EU hat Orbán darauf das Copyright. Doch Ähnliches findet sich in Russland unter Staatschef Wladimir Putin, zu dem Orbán enge Beziehungen pflegt, oder in der Türkei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, dessen erneuter Vereidigung Orbán gerade beiwohnte und zu der er gleich noch seinen Sohn mitbrachte. "Das sind die Vorbilder", meint Szente.

Orbán nimmt sich nun Wissenschaft, Justiz und Zivilgesellschaft vor

Seit 2010 beobachtet der Verfassungsrechtler "einen autoritären Wandel" in Ungarn, der geprägt sei von "einem Elitenwechsel und einer Gleichschaltung". Tatsächlich werden heute die meisten Medien und weite Teile der Wirtschaft von Gefolgsleuten Orbáns dominiert, die Gewaltenteilung wird ausgehebelt und der Rechtsstaat durch eine Flut an Gesetzen und Verfassungsänderungen untergraben. "Nach dem dritten Wahlsieg in Folge sieht man, dass nun auch noch die restlichen Sektoren gleichgeschaltet werden sollen", meint Szente und nennt "die Wissenschaft, die Gerichte und die Zivilgesellschaft".

Der erste Angriffspunkt, die Wissenschaft, betrifft den Professor persönlich. Er gehört der Ungarischen Akademie der Wissenschaften an, die nun ans Gängelband genommen wird, indem ein Großteil ihres Budgets auf ein neues Ministerium für Innovation übertragen wird.

Im Justizwesen, dem Angriffspunkt zwei, wird durch den Aufbau neuer "Verwaltungsgerichte" eine Parallelstruktur eingerichtet. "Da werden nur loyale Richter ernannt", fürchtet Szente, "und dann werden dort die politisch kritischen Fälle behandelt." Die Zivilgesellschaft als dritter Angriffspunkt schließlich wird zermürbt und kriminalisiert. Dafür steht ein im Juni vom Parlament verabschiedetes sogenanntes Stop-Soros-Gesetzespaket, das jegliche Hilfe für Flüchtlinge zur Straftat macht.

"Dieses Gesetzespaket war der letzte Tropfen", sagt Csaba Csontos, Sprecher der vom US-Milliardär George Soros finanzierten Open Society Foundation (OSF). Die Stiftung, die schon mehr als 300 Millionen Euro in ungarische Demokratieprojekte gesteckt hat, wird das Land verlassen. Die Büromöbel, die Computer, die Zimmerpflanzen - "bis Ende August muss alles raus sein, dann ziehen wir um nach Berlin", sagt Csontos. Er lobt die deutsche Hauptstadt als "Symbol für Freiheit, Demokratie und offene Diskussionen". Ungarn dagegen sei zur "geschlossenen Gesellschaft" geworden.

Von Flucht will Csaba Csontos nicht sprechen, diesen Triumph will er Orbán nicht lassen. "Aber der politische und psychologische Druck ist unerträglich geworden", erklärt er. "Wir müssen die Integrität unserer Arbeit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter schützen."

Die Feindbilder sind austauschbar, notfalls gibt es immer noch Brüssel

Noch einmal ein Szenenwechsel, zurück zum Minister im Amt des Ministerpräsidenten. Den Umzug der Soros-Stiftung kommentiert Gergely Gulyás mit einem einzigen Wort: "Egal." Das mag erstaunlich gleichgültig klingen angesichts der Wut und Wucht, mit der die Regierung in den vergangenen beiden Jahren Soros als Staatsfeind Nummer eins verfolgt hat. Doch es ist wohl auch ein Hinweis darauf, dass die Feindbilder austauschbar sind. Und wenn zu Hause alle verstummt oder verjagt sind, gibt es ja immer noch Brüssel.

Viele Vertragsverletzungsverfahren hat die EU-Kommission bereits gegen Ungarn eingeleitet. Doch nun will der Innenausschuss des EU-Parlaments noch weiter gehen. Wegen Verstößen gegen das EU-Recht wird ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn empfohlen, das mit dem Entzug des Stimmrechts enden könnte. Von "Inquistion" spricht Minister Gulyás da, von einer Verfolgung Ungarns durch die "linke und liberale Mehrheit". Doch wirklich aufregen kann ihn auch das nicht. Zum einen nämlich ließe sich daraus bei Bedarf innenpolitisch Profit schlagen, erklärt er. Zum anderen würden 2019 bei der Europawahl die Karten ohnehin neu gemischt.

In Ungarns regierungsnahen Medien wird Orbán bereits als neuer starker Mann in Europa gezeigt, der mehr und mehr Gefolgschaft findet. Das Selbstbewusstsein ist so groß, dass sich Gulyás gern ein wenig Bescheidenheit gönnt. "Nein, keinesfalls, wir haben keinen Führungsanspruch in Europa", sagt er und verweist auf Ungarns Bevölkerungszahl von gerade einmal knapp zehn Millionen. "Aber wenn wir eine starke Meinung haben, dann wollen wir sie auch verwirklichen." Viktor Orbán selbst ist da schon längst einen Schritt weiter. "Früher haben wir geglaubt, dass Europa unsere Zukunft ist", sagt er gern. "Heute spüren wir, dass wir die Zukunft Europas sind."

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