Süddeutsche Zeitung

Umfragen:Manchmal läuft es. Manchmal

Die schwierige Fahndung nach Bürgern, die bereit sind zu sagen, wen sie wählen wollen: ein Besuch bei den 90 Interviewern der Forschungsgruppe Wahlen. Und wie es kommt, dass die CSU in Umfragen 33 Prozent erzielte, dann aber 37,2 schafft.

Von Max Ferstl, Mannheim

Klick, aufgelegt. Matthias Metz lehnt sich zurück und rückt sein Headset gerade. "Ich habe doch noch gar nicht erklärt, warum ich anrufe", klagt er, in die tote Leitung. Metz ist Interviewer bei der Forschungsgruppe Wahlen. Er möchte von Menschen in Hessen wissen, was sie über Volker Bouffier, die Grünen oder die Verkehrspolitik denken. Würde nicht lange dauern, wäre völlig anonym. "Aber viele denken, ich will ihnen etwas verkaufen."

Dienstagabend, kurz nach 20 Uhr, die Büros der Forschungsgruppe Wahlen. Auf zwei Etagen sitzen 90 Interviewer, sprechen in Headsets, tippen Antworten in Computer. Matthias Metz, braune Bürstenhaare, Kapuzenpulli, wie die meisten hier Student, hat in drei Stunden mehr als 80 Nummern angerufen. Nur vier Mal hatte er Glück. Ansonsten: viele Anrufbeantworter, keine Zeit, kein Interesse. Einige legen sofort auf, sobald das Wort Umfrage fällt.

Zugespitzt gesagt scheint es so zu sein: Alle wollen wissen, wo kurz vor der Wahl die Parteien stehen, kaum einer hat Lust, dieses Wissen zu ermöglichen. Vor der Bundestagswahl 2013 wurden in Deutschland etwa 150 Umfragen erhoben, 2017 waren es schon 230. Ähnlich ist die Entwicklung bei Landtagswahlen. Das Wissen um die Meinung der Wähler wird begehrter.

Wie es kommt, dass die CSU in Umfragen 33 Prozent erzielte, am Wahltag aber 37,2 schaffte

Dass 230 Umfragen eine Zahl ist, die nicht jeder für einen Wert an sich hält, wurde gerade erst wieder Anfang der Woche klar. Da veröffentlichte die Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall eine Dokumentation. Einer der Kritikpunkte: Demoskopen weisen zu wenig darauf hin, dass es sich bei ihren Zahlen um Näherungswerte handelt, keineswegs aber um Prognosen des Wahlergebnisses. Journalisten wiederum ignorieren diesen Charakter der Zahlen gern, weil scheinbar klare Prozentangaben griffiger sind als die Angabe von Schwankungsbreiten. Und Politiker orientieren sich lieber an vermeintlich authentischen Zahlen als an eigenen Überzeugungen. Darüber hinaus haben Umfragen Einfluss, indem taktisch vorgehende Wähler sich an ihnen orientieren. Viel Macht also für Wissenschaftler, die nach eigener Aussage nur die Wirklichkeit abbilden wollen.

Steuert also die Demoskopie die Demokratie? "Das ist eine beliebte Verschwörungstheorie, die mit der Realität nichts zu tun hat", sagt Matthias Jung, der Leiter der Forschungsgruppe Wahlen. Jung, 62, kariertes Hemd, helle Strickjacke, ist lange genug dabei, um jeden Vorwurf mindestens einmal gehört zu haben. Meistens kennt er auch eine Statistik, die ihn relativiert. Er habe 2017 die Wähler speziell zum Einfluss der Umfragen befragt. 80 Prozent der Befragten hätten gesagt, bei ihnen hätten Umfragen keine Bedeutung gehabt. Sind das viele? Oder sind die anderen 20 Prozent sehr wenige? Oder ist eine solche Umfrage eh nichts wert, weil vielleicht viele der 80 Prozent nur nicht zugeben wollten, dass Umfragen Einfluss auf sie haben? Jedenfalls: Bei Wahlen entscheiden zuweilen geringe Abstände zwischen den Parteien.

Bei der Landtagswahl in Bayern vor knapp zwei Wochen sahen die meisten Umfragen die CSU vorher bei 33 oder 34 Prozent. Am Wahltag schaffte sie 37,2 Prozent - und hatte das Gefühl, doch nicht so schlecht weggekommen zu sein. "Der Underdog-Effekt", sagt Matthias Jung. Ausgelöst bei unzufriedenen CSU-Stammwählern, die aus Angst vor einem Totalschaden ihrer Partei doch noch das übliche Kreuz gemacht haben. Dieser Effekt ist der eine, den Forscher feststellen. Der andere: der Bandwagon-Effekt. Wähler gehen dorthin, wo sie die Party vermuten - und haben vielleicht den Grünen ihre Stimme deshalb gegeben, weil sie in Umfragen gut dastanden.

Jung jedoch sagt, es gebe etwas, das bedeutender sei als Demoskopie: "Viel stärker wirken sich Wahlergebnisse aus." Da die Grünen in Bayern stark abschnitten, klettern sie gerade bei Umfragen auch in Hessen. Schön für sie, aber: "Natürlich muss man erst mal abwarten, wie die Hessen wirklich wählen." Das weiß niemand. Was er weiß: wie die 1500 Hessen geantwortet haben, die von seinen Leuten zwischen Dienstag und Donnerstag befragt wurden.

Im Callcenter hat Matthias Metz jetzt einen auskunftswilligen Mann in der Leitung. Zwischen 45 und 49, geschieden, Angestellter. Michael Metz setzt drei Haken, fragt mögliche Koalitionen ab: Schwarz-Grün, Jamaika, Grün-Rot-Rot. Nach zwölf Minuten ist das Interview vorbei. "Politisch interessiert, nett - manchmal läuft es", sagt er. Oft läuft es nicht an diesem Abend. Anrufbeantworter, aufgelegt, keine Zeit. Klick, klick, klick.

Bei der Forschungsgruppe Wahlen sagen sie, dass nur "ungefähr" ein Viertel der Angerufenen mitmacht. Für die Institute ist dies ein Problem, weil es ihre Methoden gefährdet. Eine Umfrage basiert ja darauf, dass alle Wahlberechtigten eine gleich große Chance haben, ausgewählt zu werden. Aber es hilft wenig, Telefonnummern über einen Computer zufällig zu generieren, wenn die Gezogenen nicht reden wollen. Trotzdem, sagt Jung: "Die Telefonumfrage ist nach wie vor die beste Methode, die wir haben." Online-Umfragen kommen auf höhere Teilnehmerzahlen, aber die Repräsentativität ist schwer zu gewährleisten.

Und wie kommen die Institute dann zu ihren Ergebnissen? Bei der Forschungsgruppe weiß man zum Beispiel, dass Grünen-Wähler besonders gern teilnehmen. Daher gewichtet Jung die Grünen-Anhänger herab, wenn er aus den Antworten, den sogenannten Rohdaten, seine Ergebnisse destilliert. Bei der AfD ist es umgekehrt. Das hatten die Demoskopen vor mehreren Landtagswahlen 2016 noch unterschätzt, die damals plötzlich zum Faktor werdende Partei lag teilweise acht Prozentpunkte über den Umfragen. "Inzwischen haben wir die nötige Erfahrung", sagt Jung.

Und, nach welcher Formel gewichtet er? Das verrät er nicht, das verraten übrigens auch seine Konkurrenten von Infratest oder Emnid nicht. Auch die genaue Zahl derjenigen, die ihre Meinung nicht sagen wollen, bleibt geheim. Die Otto-Brenner-Stiftung sieht darin ein Problem. Sie fordert Transparenz, damit man die Zahlen prüfen kann. Jung lehnt das ab, zumindest jetzt. Formeln und manche Daten sind Geschäfts- und Erfolgsgrundlagen. Er sagt: "Solange das nicht alle machen."

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Quelle:
SZ vom 26.10.2018
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