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Umfragehoch der Piratenpartei:Chaoten oder Visionäre?

Sind sie einfach nur ahnungslos oder die Retter der deutschen Politik? Kann man die Piraten wirklich wählen? Fünf Gründe, der neuen Partei seine Stimme zu geben. Und fünf dagegen. Natürlich höchst subjektiv.

Hannah Beitzer

Die Piraten wirbeln die deutsche Politik durcheinander: Nach zwei erfolgreichen Landtagswahlen setzt sich der Erfolg der neuen Partei auch in den Umfragen fort. Im Vergleich zur Vorwoche legen die Piraten im aktuellen Emnid-Sonntagstrend um einen Prozentpunkt zu und kommen auf nunmehr zehn Prozent. Doch kann man sie wirklich wählen? Man kann. Man kann es aber auch lassen.

Fünf Gründe, warum man die Piraten wählen sollte:

1. Die Piraten sind eine Partei zum Mitmachen

Politik ist viel zu oft etwas, das "da oben" passiert, weit entfernt von denjenigen, die sich irgendwo in Deutschland durch den Alltag wursteln. Man darf zwar alle paar Jahre wählen, aber das ist auch ein bisschen wie die Katze im Sack kaufen, wie die vergangenen Legislaturperioden zeigten: Die SPD führte Hartz IV ein, die Grünen stimmen Kriegseinsätzen zu, die Union schafft die Wehrpflicht ab und die FDP kann sich sowieso nicht entscheiden, ob sie lieber sozial- oder neoliberal sein möchte. Die Piraten wollen anders sein: Da werden die Entscheidungen basisdemokratisch gefällt, auf Parteitagen, zu denen jeder kommen darf. Und natürlich online - mit Hilfe der verschiedenen Beteiligungstools.

Mitmachen kann jeder, muss es aber nicht: Hat ein Pirat von einem Politikfeld keine Ahnung, dann kann er seine Stimme auch delegieren. Allzu machtbewusstes Auftreten wird sanktioniert - und wer heute noch Amtsinhaber ist, kann beim nächsten Parteitag schon abgesägt sein. Der piratige Politikstil artet zwar oft online wie offline in wilde Diskussionen, seltsame Anträgen und endlose Parteitagsdebatten aus, ob das tatsächlich durchzuhalten ist mit der Basisdemokratie, ist deshalb unklar. Doch einen Versuch ist es wert - und immerhin stehen den Piraten heute ganz andere Werkzeuge zur Verfügung als zum Beispiel den Grünen in ihrer Gründungsphase.

2. Die Piraten sind Visionäre

Seien wir realistisch - fordern wir das Unmögliche! Als neue Partei haben die Piraten die Möglichkeit, auch mal wagemutige Forderungen zu stellen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen zum Beispiel: funktioniert nicht, argumentieren viele. Das werden wir mal sehen, sagen die Piraten. Und schreiben sich das BGE ins Parteiprogramm. Einfach so. Weil es die Mehrheit so will.

Die Piraten könnten so zur politischen Heimat all derjenigen Menschen werden, die sich nicht damit abfinden wollen, dass die etablierten Parteien oft nur den Eindruck erwecken, auf das zu reagieren, was ihnen die Weltwirtschaft so auftischt. Ob sich alles durchsetzen lässt, ist zwar eine andere Frage - aber das lässt sich eben erst wirklich sagen, wenn man sich auf hochstrebende Zukunftsvisionen einlässt.

3. Die Piraten fordern etablierte Parteien heraus

Nach dem Einzug ins Abgeordnetenhaus hatten nicht nur die Berliner Piraten Grund zur Freude, sondern auch junge Politiker anderer Parteien - vor allem die, die sich mit Netzpolitik beschäftigen. Denn auf einmal wird den Alten klar, dass sie einige Dinge verpasst haben in den vergangenen Jahren. Auf einmal ist zum Beispiel das Urheberrecht ein Daueraufreger. Kurz: Auf einmal machen sie sich emsig Gedanken, wie man junge Wähler ansprechen kann - und auch diejenigen, die sich von der Politik mehr Mitbestimmung und Transparenz wünschen.

4. Die Piraten sind keine Karrierepolitiker

Die Piraten sind keine dressierten Jungpolitiker, die auf die große Karriere hoffen - kaum einer der jüngst gewählten Abgeordneten dürfte vor einem Jahr ernsthaft damit gerechnet haben, bald Berufspolitiker zu sein. Die meisten Piraten engagieren sich nicht, um reich und berühmt zu werden - sondern einfach, weil sie sich engagieren wollen. Politik aus Idealismus, aus dem Drang heraus, etwas bewegen zu wollen, ganz egal ob man damit in den Bundestag kommt oder einfach nur eine große Acta-Demo organisiert. Doch zunehmender Erfolg zieht Karrieristen an. Noch rackern sich die meisten aktiven Piraten aber ganz ohne finanziellen Vorteil ab.

5. Die Piraten sind authentisch

Sie sagen "einen von der Palme wedeln" und "bitte mal die Kresse halten" und charakterisieren sich selbst nach Herkunft und Bildungsgrad als "Privilegienmuschi". Und dann lachen sie so nett. Toll ist dabei nicht nur der Spaßfaktor. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass Politik viel zu sehr von bestimmten Dingen geprägt ist: leeren Floskeln, durchgestylter Garderobe, Imagekampagnen und PR. Muss das so sein? Die Piraten geben die Antwort: Nein.

Doch ob das reicht, die Politik in Deutschland nachhaltig zu verändern, ist noch lange nicht sicher. Denn es gibt auch gute Gründe dafür, die Piraten nicht zu wählen:

1. Die Piraten sind die ewigen Ahnungslosen

Ständig nach der einen Lösung für "die Euro-Krise" gefragt zu werden, ist sicher nicht angenehm. Aber es fällt schon sehr auf, dass die Piraten Fragen nach aktuellen politischen Sachverhalten gerne aus dem Weg gehen. Europäischer Rettungsschirm? Keine Position. Schlecker retten oder nicht? Keine eindeutige Antwort. Gerne referieren die Piraten darüber, was sich alles ändern muss, immer geht es gleich um den großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel - aber viel zu selten wird es konkret. Anfangs war das irgendwie erfrischend. Und schlimme Folgen hat es ja nicht, wenn eine Partei, die gerade einmal in zwei Länderparlamenten vertreten ist, zu vielen Fragen keine Antwort hat. Aber: langsam nervt das Kokettieren mit der eigenen Ahnungslosigkeit. Dabei versichern die Piraten immer wieder, dass emsig gearbeitet werde, in Arbeitsgruppen, online, auf Parteitagen. Aber warum heißt es dann so selten: "Einen Parteitagsbeschluss gibt es noch nicht, aber wir arbeiten gerade an folgenden Modellen:..."

2. Die Piraten streiten auf Kindergartenniveau

Dass die Inhalte der Piraten in den Medien nur selten Niederschlag finden, liegt nicht nur daran, dass an vielem noch gebastelt wird - vor allem gibt es keine andere Partei, in der so viel und so leidenschaftlich über Dinge gestritten wird, die mit Politik nur sehr entfernt etwas zu tun haben. Da lästern nicht nur die gerne als "links" bezeichneten Berliner Piraten über den Ex-CDUler und Bundesvorstand Sebastian Nerz - eigentlich kann kaum ein Pirat seine Meinung öffentlich kundtun, ohne sofort von irgendeinem anderen öffentlich eins übergebraten zu bekommen. Die Piraten haben jedenfalls einiges dazu beigetragen, dass "Shitstorm" zum Anglizismus des Jahres 2011 gewählt wurde. Wer ein paar mehr Piraten in seiner Twitter-Timeline hat, der fühlt sich hin und wieder wie auf dem Spielplatz. Einem Spielplatz mit vielen sehr schlecht erzogenen Kindern, wohlgemerkt. Die Erregungskurve steigt oft schon aufgrund von kleinsten Kleinigkeiten ins Unermessliche, fast immer wird es persönlich. Das lässt sich nicht mehr unter "Transparenz" verbuchen - es ist einfach nur anstrengend und auch unprofessionell. Denn so gehen nicht nur die vorhandenen Inhalte unter, sondern auch die (noch) nicht vorhandenen: Die Zankereien nehmen viel Zeit in Anspruch, die die Piraten eigentlich für die Weiterentwicklung ihres Programms brauchen würden.

3. Bei den Piraten vergeht kaum ein Monat ohne #gate

Der eine findet "den Juden an sich unsympathisch" , der nächste schlägt vor, den Nahost-Konflikt mit einer Atombombe auf den Gaza-Streifen zu beenden, wieder eine will Aids mit der "Integration der Urprinzipien Pluto und Neptun" bekämpfen und einer findet, dass die NPD "gute und schlechte Ansichten" vertrete. Meistens folgt auf solche Piraten-Äußerungen ein aufgeregter Shitstorm (siehe Punkt 2), dann eine Stellungnahme, manchmal auch ein Rücktritt und schließlich die Beteuerung, dass das alles Einzelfälle seien. Das Problem ist aber: Die Reihe der prominenten Spinner unter den Parteimitgliedern reißt einfach nicht ab. Und da "der Pirat an sich" dazu neigt, seine zuweilen kruden Ideen nicht nur in seiner unmittelbaren Umgebung auszuleben, sondern sie für jeden einsehbar ins Netz zu kippen, darf jeder teilhaben an #kevingate (der mit den Juden), #esogate (die mit dem Aids) und wie sie alle heißen. Und selbst wenn die von den Gate-Verursachern vertretenen Thesen meistens nichts mit dem Parteiprogramm zu tun haben, wirft das die Frage auf: Wie viele von denen gibt es eigentlich noch? Und: Hört das irgendwann mal auf? Bisher jedenfalls sieht es nicht danach aus - und der Verdacht, dass es sich nicht nur um Einzelfälle handelt, bleibt. Gerade erst haben die Junge Piraten in einem Brandbrief Rassismus und Sexismus in der Partei beklagt.

4. Piraten haben eine krude Genderpolitik

Die Mehrzahl der Parteimitglieder sind Männer - das wäre nicht weiter schlimm, so geht es eigentlich allen Parteien in Deutschland. Doch keine davon geht so ungeschickt, ja, geradezu dämlich, damit um wie die Piraten. Wenn sie über Frauen reden, dann hört sich das oft so an wie neulich im Blog des Berliner Abgeordneten Pavel Mayer: "Es gibt sie, und sie sind zu wenige, aber das Geschlecht ist im idealistischen Menschenbild der Piraten auch ohne Belang, jedenfalls, wenn es um politisches Engagement geht." Was soll das wohl heißen? Man weiß, dass in der Partei (zu) wenige Frauen sind, anderseits will man aber gar nicht wahrhaben, dass es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt - und das wiederum aber nur in der Politik? Spätestens da wird klar, dass die Piraten wirklich ein Genderproblem haben. Auch Aussagen wie "die Grünen vergraulen mit der Quote die Männer" sind seltsam: Denn obwohl sie die Quote ja nicht erst seit gestern haben, gibt es dort immer noch mehr Männer als Frauen. Das ganze gipfelt dann in dem etwas wirren Gedankengang: "Glücklicherweise holen die Frauen aber in allen Bereichen der Gesellschaft zu den Männern auf. So zeigt etwa die Kriminalstatistik seit langem einen steigenden Anteil weiblicher Straftäter, und das ist auch gut so." Das soll wohl ein Witz sein? Herzlich gelacht.

5. Piraten haben wenig Verständnis für "Offliner"

Piraten beschweren sich oft und gern, dass sie in die Klischeeschublade gesteckt werden: "Die wollen das Urheberrecht abschaffen", "Die wollen alles umsonst". Sie haben recht, die Debatte ist polemisch und so wie sie geführt wird wenig zielführend. Nur: Sie selbst tun nicht gerade viel dafür, dass sich das ändert. Wenn sich ein (sichtlich verunsicherter) Musiker wie Sven Regener den Frust über die Tücken des digitalen Wandels von der Seele redet - dann gilt er schnell als "von gestern", redet "Unsinn", lässt sich von der Content-Mafia "verarschen", hat die letzten Jahre "im Dornröschenschlaf verbracht". Kurz: Er ist ein ewig Gestriger, für den der Pirat allenfalls Mitleid empfinden kann, keinesfalls Respekt. Doch wenn es den Piraten ernst damit ist, dass sie das Urheberrecht mit den Künstlern gemeinsam reformieren wollen, dann müssen sie in solchen Situationen sachlich bleiben. Denn wenn man Fronten aufweichen will, darf man auf Polemik nicht mit neuer Polemik antworten. Sonst bleibt man ewig die "Umsonst-Partei".

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