Deutschland bleibt offen für Flüchtlinge, denn die Deutschen wollen es so: Drei von vier Bürgern sind weiterhin zur Aufnahme von Asylbewerbern aus Kriegsregionen bereit. In kaum einem anderen EU-Land, so belegt eine neue internationale Studie, zeigen sich die Menschen so bereitwillig und engagiert, Migranten aufzunehmen.
Die Gründe für diesen deutschen Sonderfall erhellt die Umfrage des anerkannten Ifop-Instituts. Die Pariser Demoskopen haben in sieben Ländern die Stimmung gegenüber Flüchtlingen ausgeleuchtet. Den Auftrag zur Untersuchung gab die "Fondation Jean-Jaurès" - eine Stiftung, die Frankreichs regierenden Sozialisten nahesteht - sowie die "Europäische Stiftung für progressive Studien" mit Sitz in Brüssel.
Das Ergebnis der Erhebung ist eindeutig: Dank ihrer Wirtschaftskraft zeigen sich die Deutschen weitaus zuversichtlicher als Franzosen, Spanier oder Niederländer, die Aufnahme Hundertausender Zuwanderer bewältigen zu können. Und es gibt einen "Merkel-Effekt": Weil sie ihrer Kanzlerin vertrauen, breiten auch die Anhänger von CDU/CSU ihre Arme für Flüchtlinge aus - ganz im Gegensatz zu konservativen Wählern anderswo in Europa.
Sicher, es gären Zweifel. So offenbart eine (allein in Deutschland unternommene) Nachbefragung im Oktober, dass inzwischen 41 Prozent der Deutschen (statt 32 Prozent im September) verschärfte Grenzkontrollen und eine härtere Bekämpfung illegaler Einwanderung fordern. Auch wächst der Wunsch, die Flüchtlinge mögen "wieder zurückgehen, sobald es die Lage in ihrem Land erlaubt" (80 Prozent statt zuvor 72). Das sei zwar "eine Verhärtung", urteilt Ifop-Chef Jérôme Fourquet. Aber, die Stimmung kippt noch nicht: Im europäischen Vergleich verharrt die deutsche Zustimmung zur Willkommens-Kultur "auf extrem hohem Niveau" (79 Prozent im September, 75 im Oktober).
Gutmenschen, Ausgrenzer und Zauderer
Die sieben befragten EU-Völker lassen sich in drei Gruppen einteilen. Da sind, erstens, die bekennenden Gutmenschen: Mehr als drei Viertel aller Deutschen und Italiener sagen ja zur Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Ihnen gegenüber stehen die Ausgrenzer: Weniger als die Hälfte aller Briten (44 Prozent), Franzosen (46 Prozent) oder Niederländer (48 Prozent) befürwortet es, am Mittelmeer gestrandete Flüchtlinge bei sich zu begrüßen. Eine Mehrheit lehnt das ab. Zwischen beiden stehen - als gutwillige Zauderer - Spanier (67 Prozent) und Dänen (57 Prozent).
Weder nationaler Reichtum, gemessen als Pro-Kopf-Einkommen, noch die Geografie, vermessen per Breitengrad, bestimmen die Unterschiede in Europas Gesinnung. Entscheidend ist das Gewissen: Mehr als alle anderen stimmen Deutsche (79 Prozent im September, 76 im Oktober) und Italiener (68) der Aussage zu, es sei "die Pflicht unseres Landes, Migranten aufzunehmen, die vor Krieg und Elend fliehen". Ähnlich äußern sich Spanier (67 Prozent) und Dänen (64 Prozent), erst dann folgen die Abwehrer aus den Niederlanden (61 Prozent), Frankreich (54 Prozent) und dem Vereinigten Königreich (54 Prozent). In den meisten Ländern sind es praktizierende Christen sowie Menschen über 65 Jahre, die sich überdurchschnittlich in die Pflicht zur Fremdenliebe stellen.
Der angebliche Gegensatz zwischen Nord und Süd, so oft heraufbeschworen in der EU, spielt auch innerhalb der Nationen kaum eine Rolle: Die vom Zustrom besonders stark betroffenen Bayern (74 Prozent), Süditaliener (78 Prozent) oder Andalusier (65 Prozent) äußern mehr oder weniger dieselbe Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen wie ihre übrigen Landsleute in der Bundesrepublik (79 Prozent), in Italien (77 Prozent) oder in Spanien insgesamt (67 Prozent).
Weitaus größer hingegen sind die Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Anhänger konservativer und rechter Parteien blicken deutlich skeptischer auf die Flüchtlinge als traditionelle Wähler der Linken. In fast allen befragten Ländern klafft zwischen Rot und Schwarz eine Bewusstseinslücke von mehr als 30 Prozentpunkten.
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Auf der Linken unterstützen mindestens zwei Drittel (Briten, Niederländer, Franzosen), bisweilen sogar neun Zehntel (Italiener, Deutsche) aller Wähler die Aufnahme von Flüchtlingen. Sympathisanten der Rechten hingegen bleiben misstrauisch oder lehnen die Zuwanderung mehrheitlich ab (so in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich und Dänemark).
Eindeutige Ausnahme ist die Bundesrepublik. Hier liegt die Differenz zwischen Links und Rechts bei nur 18 Prozentpunkten. Denn nicht nur Linke, Grüne oder Sozialdemokraten (90 Prozent), auch sieben von zehn Christdemokraten, Christsozialen und Wählern der AfD befürworten im September die Aufnahme der Flüchtlinge. Die Zustimmung nur bei CDU/CSU-Anhängern liegt im Oktober gar bei 86 Prozent. Ifop-Direktor Jérôme Fourquet deutet dies als persönlichen Erfolg der Kanzlerin. "Der starke Einsatz von Angela Merkel für die Migranten hat unbestreitbar seine Auswirkungen auf die Meinung der Wähler von CDU/CSU", glaubt der französische Demoskop, der staunend einen Vergleich mit seinem Heimatland zieht: Mit 72 Prozent sei die Zustimmung unter den detuschen Wählern rechts der Mitte weit mehr als doppelt so hoch wie bei Frankreichs konservativen Republikanern (29 Prozent).
Fourquet entdeckt sogar noch einen zweiten "Merkel-Effekt". Bei der Ifop-Nachfrage im Oktober sank die Hilfsbereitschaft der deutschen Linken um sechs Punkte (auf 84 Prozent), rechts von der Mitte blieb die Lage stabil: 73 (vorher 72) Prozent waren für Offenheit. "Ihre Wählerbasis hält der Kanzlerin weiterhin die Treue", resümiert Fourquet.
Das Ergebnis: Während in allen sonstigen EU-Ländern der Umgang mit den Neuankömmlingen die heimische Gesellschaft spaltet, herrscht in Deutschland ein breiter, parteiübergreifender Konsens für die Begrüßung der Flüchtlinge - "Welcome!"
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Erstaunlich ähnlich hingegen sehen alle sieben Völker die Gefahr, dass die Politik offener Grenzen ständig neue Flüchtlinge anzieht. Acht von zehn Briten, Franzosen und Italienern, aber auch sieben von zehn Dänen, Spaniern und Deutschen stimmen der Sorge zu, die Aufnahme vieler Flüchtlinge könne "wie ein Lockruf" wirken. Wer heute viele Fremde aufnimmt, vor dessen Toren stehen morgen noch mehr Menschen? Dieses Unwohlsein plagt auch die Deutschen, zunehmend sogar: Im September teilten es 69 Prozent, im Oktober schon 74 Prozent der Bundesbürger.
Und die Angst wächst mit. Von 64 Prozent im September auf 68 Prozent im Oktober hat die Zahl jener Deutschen zugenommen, die unter den Flüchtlingen "auch potenzielle Terroristen" vermuten. Damit werden die Deutschen ihren Nachbarn langsam ähnlich: Acht von zehn Niederländern, Briten oder Italienern sehen in den Migranten von heute die möglichen Gewalttäter von morgen. Auch 69 Prozent der Befragten in Spanien und Frankreich glauben das. Beide Nationen haben - wie die Briten, aber anders als die Deutschen - Attentate islamistischer "Gotteskrieger" erlitten.
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Dennoch, nicht die Angst im Bewusstsein macht den Unterschied aus zwischen den Europäern. Vielmehr sind es das Sein, also die eigene Wirtschaftskraft und das dann daraus erwachsende Selbstvertrauen, das die Deutschen von fast allen ihren Nachbarn unterscheidet. Nur in der Bundesrepublik nämlich glaubt eine Mehrheit der Bürger (55 Prozent), die Zuwanderer würden die Wirtschaft ankurbeln. Alle anderen EU-Völker mutmaßen mehrheitlich das Gegenteil.
Und 69 Prozent aller Deutschen stimmten im September dem Satz zu, dass "unser Land die wirtschaftlichen und finanziellen Mittel hat, um Migranten aufzunehmen." Ins Merkel-Deutsch übersetzt: "Wir schaffen das!" Allerdings, die Zuversicht wird brüchig. Im Oktober zeigten sich nur noch 59 Prozent der Deutschen derart optimistisch.
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Neben den Deutschen glauben nur noch die Dänen, ihr Land sei ökonomisch gerüstet für die Flüchtlinge. Alle anderen Europäer wehren ab, fühlen sich zu schwach. Ungefähr drei Viertel aller Franzosen und Italiener bekunden, ihren Nationen fehlten die Mittel, die vielen Asylbewerber zu unterstützen. Beide Länder beklagen mehr als zehn Prozent Arbeitslose. Das genau ist die Regel: Je mehr Landsleute ohne Job sind, desto geringer ist die Hilfsbereitschaft - das gilt in ganz Europa, mit zwei Ausnahmen. Trotz einer Rekordarbeitslosigkeit von 22,5 Prozent glaubt immerhin ein Drittel aller Spanier, ihr Land habe noch genügend Reserven für die Fremden. Genau umgekehrt liegt der Fall der Briten: Auf der Insel sind zwar nur 5,6 Prozent ohne Job - aber 60 Prozent der Befragten wähnen ihr Land überfordert.
Fünf der sieben Völker halten mehrheitlich das Stopp-Schild hoch: Genug! Désolé, Scusi, Sorry, rufen Franzosen, Italiener (jeweils 63 Prozent) und Briten (60), man habe "schon viele Ausländer", noch mehr Fremde seien "nicht möglich!" Ähnlich stöhnen Niederländer und Dänen. Nur in Spanien und in Deutschland glaubt eine Mehrheit der Bürger, es sei noch Platz in der Herberge. Nur Vorsicht, auch in der Bundesrepublik kippt die Stimmung. Die Fernsehbilder von überfüllten Notunterkünften wirken: Auch immer mehr Deutsche meinen, das Boot sei voll. Im September sagte dies nur jeder Dritte, im Oktober meinte das fast jeder Zweite (44 Prozent). Diese Veränderung um elf Prozentpunkte, registriert innerhalb von weniger als vier Wochen, ist dramatisch.
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Zeichnet sich da ein Ende des deutschen Sonderwegs ab? Beim Blick nach vorn zumindest scheinen die Deutschen ihren Nachbarn bereits recht ähnlich geworden zu sein. Gefragt, ob der Zustrom Hunderttausender Menschen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika noch lange so weitergehen werde, glaubt kaum jemand mehr an eine schnelle Lösung. Nur eine kleine Minderheit äußert, die Flüchtlingswelle werde in "einigen Wochen oder Monaten" abebben. Zwei Drittel bis vier Fünftel aller Befragten mutmaßen, der Zustrom werde sich "ein oder zwei" oder sogar "drei und mehr Jahre" so fortsetzen. Am wenigstens Illusionen macht sich ausgerechnet jenes Volk, das seit Jahren die meisten Erfahrungen mit den Gestrandeten gesammelt hat: 55 Prozent aller Italiener gehen fest davon aus, dass die Süd-Nord-Wanderung so weitergeht. Noch jahrelang.
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