Viktor Janukowitsch hat mindestens drei schwerwiegende Fehler begangen, den größten schon vor Monaten. Mit den Verhandlungen über ein Assoziierungs-Abkommen weckte er Hoffnungen, obwohl er die Kooperation mit der Europäischen Union nie wirklich wollte. Die Enttäuschung vieler Ukrainer darüber löste den Aufstand aus.
Fehler Nummer zwei: Der Präsident akzeptierte die Logik, dass die Ukraine eine Wahl zu treffen habe zwischen dem Westen und Russland. Diese Logik prallt aber an der EU ab. Die Gemeinschaft erträgt unter ihren Mitgliedern ökonomische und politischer Unterschiede, sie schafft keine Fronten. Die EU bietet vielmehr Optionen für Staaten, die sich Regeln für gute Regierungsführung unterwerfen. Die EU sucht nicht nach neuen Mitgliedern - neue Staaten streben in die EU.
Fehler Nummer drei war im Zuge der Verhärtung fast schon unvermeidbar: Janukowitsch ließ es zu, dass ukrainische Sicherheitskräfte auf ukrainische Bürger schossen.
Die Toten vom Maidan machten die Revolution unumkehrbar. Janukowitsch blieb allein der Weg in die Gewaltherrschaft - aber diese Option bot sich dem Präsidenten nie wirklich. Seine Macht war ja nur geborgt, von Oligarchen, denen die Alternative - Staatszerfall oder Machtwechsel - keine schlaflosen Nächte bereitete: Selbstverständlich sehen auch die reichen Industriefürsten der Ukraine mehr Chancen in einer Anbindung an den Westen. Russlands Zollunion oder gar eine territoriale Eingliederung sind kaum attraktiv.
Wie entrückt Janukowitsch am Ende seiner Präsidentschaft war, haben die Vermittler erlebt. Er konnte nicht erkennen, dass ein auf Korruption und Kleptokratie gebautes System in Zeiten von Transparenz und Dauer-Kommunikation keine Überlebenschance hat. Er merkte nicht mal, wie sich seine eigene Partei abwandte. Es war ein einsamer Untergang - aber nicht das Ende der Revolution.
Überschwang und Mut lösen einander ab
Für europäischen Triumphalismus ist dies deshalb nicht der richtige Zeitpunkt, denn die Sorgen der Ukraine sind mit Janukowitsch nicht verschwunden. Die Misswirtschaft der Behörden, Korruption, das Oligarchensystem, die fatale Abhängigkeit von Russland - all das sind Langzeitprobleme, die das Land schon vor Janukowitsch gequält haben und weiter quälen werden.
Wer Julia Timoschenko jetzt als Heilsbringerin feiert, hat vermutlich vergessen, dass die Frau seit der Unabhängigkeit der Ukraine Teil des Systems ist und nicht gerade wenige Altlasten mit sich herumschleppt.
Revolutionsgesellschaften - ob im Mitteleuropa der Nachwendezeit oder in der arabischen Welt - funktionieren nach ähnlichen Mustern. Überschwang und Frustration, unendlicher Mut und große Verzagtheit lösen einander ab. Es fehlt erfahrenes politisches Personal. Radikale Kräfte erobern die Bühne und werden wieder hinweggefegt. Und alle teilen die Hoffnung auf Besserung: auf mehr Arbeit, mehr Wohlstand, mehr Transparenz, mehr Demokratie, weniger Korruption und Misswirtschaft.
Zwischen zwei Polen
So wird auch die Ukraine weiter am Wechselspiel der Emotionen und Interessen leiden. Jetzt, wo sich die Verhältnisse gedreht haben, kommt es mehr denn je auf die Pole an, zwischen denen das Land oszilliert: die EU und Russland.
Für den russischen Präsidenten ist die Revolution ein schwerer Schlag. In seinem Konzept einer großrussischen Einflusszone gibt es keine Wahlfreiheit, erst recht nicht für einen Schlüsselstaat wie die Ukraine. Seine Zollunion ist ohne die Ukraine gefährdet. Überhaupt wird nun auch das Selbstbewusstsein anderer Völker im Schatten Russlands wachsen. Dabei geht es nicht nur um die Missachtung Moskauer Interessen, sondern um die Ablehnung einer Ordnungsvorstellung, die eng mit dem Namen Putin verknüpft ist.
Die autoritäre Art des Präsidenten reibt sich am Individualismus und dem Selbstbestimmungswunsch, der nicht nur in der russischen Nachbarschaft, sondern überall auf der Welt wächst. Die ukrainische Revolution wird bemerkenswerterweise besonders scharf in China beobachtet, wo Oligarchentum und Rechtlosigkeit keine fremden Phänomene sind.
Und die EU? Die darf sich nur ein bisschen gratulieren. Es waren drei wichtige europäische Nationalstaaten, die mit ihren Außenministern das Tor aufgestoßen haben für den letzten Akt der Revolution.
Die Institutionen der EU haben zuvor das ukrainische Problem unterschätzt. Das darf nicht mehr geschehen. Europa trägt nun für den zweiten Teil der Revolution eine gewaltige Verantwortung, die sich auch in Euro und Cent misst. Die Menschen auf dem Maidan haben sich ihr Assoziationsabkommen erkämpft - ob es nun unterschrieben ist oder nicht.