Süddeutsche Zeitung

Umbruch in der Ukraine:Maidan - und wie weiter?

Um sich nach dem Rücktritt Janukowitschs neu erfinden zu können, muss sich die Ukraine von den Menschen befreien, die den korrupten Staat aufgebaut haben. Dies wird schwierig werden, weil Russland echte Reformen verhindern will. Auch der Westen muss seine politische Lähmung überwinden.

Ein Gastbeitrag von Lilia Shevtsova

Der Aufstand in der Ukraine - das ist nicht nur ein Beispiel für den Mut der Ukrainer, die der Welt gezeigt haben: Wir sind bereit, unser Leben für die Freiheit zu opfern. Die Ereignisse der vergangenen Tage haben auch gezeigt, dass liberale Demokratien nicht bereit sind, die ukrainische Revolution wirklich zu unterstützen. Außerdem wurde deutlich, dass der Kreml sich dagegen sträubt, die Ukraine aus seiner Umarmung zu entlassen.

Die ukrainische Krise hat die politische Lähmung des Westens demonstriert. Die liberalen Demokratien haben auf Janukowitsch eingeredet, er möge sich friedlich verhalten, nachdem er sich bereits fürs Blutvergießen entschlossen hatte. Der Westen versuchte so zu tun, als würde er die Einmischung des Kremls in die ukrainischen Ereignisse nicht sehen. Anstatt Sanktionen einzuleiten, erhoben westliche Politiker den Zeigefinger und hofften auf einen Kompromiss zwischen Janukowitsch und seinen Gegnern. Aber was für einen Kompromiss kann es denn geben zwischen einem Metzger und seinem Opfer?

Das Abkommen vom 21.Februar, das Janukowitsch und die Opposition unter der Vermittlung der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens unterschrieben, ist ein Beispiel für diese Schieflage. Das Abkommen basierte auf der Vorstellung, dass Janukowitsch im Amt bleibt und Neuwahlen Ende 2014 stattfinden! Klar, dass die Ukrainer diesen Deal ablehnten.

Erinnerungen an die orangene Revolution

Heute hat die Ukraine, ohne Rücksicht auf vorgefertigte Szenarien, eine neue Seite in ihrer Geschichte aufgeschlagen. Die wichtigste Bedrohung für das Land ist eine Wiederholung der orangenen Revolution von 2004, als der Sieg über einen Autokraten gekapert wurde durch Oligarchen-Clans und deren politische Vertreter. Vergessen wir nicht, dass es die Anführer der orangenen Revolution und die ihnen nahestehenden Oligarchen waren, die einst den Frankenstein Janukowitsch großzogen.

Heute sind die alten Clans und die Helden von 2004 wieder auf der politischen Bühne, und allem Anschein nach kommen sie an die Macht. Dass der Kreml ungeduldig auf eine Rückkehr Julia Timoschenkos an die Macht wartet, macht nachdenklich.

In der Ukraine ist eine neue politische Landschaft entstanden, welche der Westen zu ignorieren versucht. Das Trio Klitschko-Jazenuk-Tjahnybok sind nicht die einzigen Vertreter des ukrainischen Protests. Der Maidan ist eine neue Form der nationalen Selbstverwirklichung, mit seinen eigenen Anführern und Helden. Janukowitschs Fall ist im Wesentlichen den "radikalen Elementen" auf dem Maidan geschuldet, unter anderem dem Rechten Sektor, die zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft geworden sind.

Jede neue Macht, die nun im Parlament entsteht, könnte mit der Beteiligung der Oligarchen zum Monopol neigen. Die Zukunft der Ukraine wird davon abhängen, ob die Ukrainer den Maidan behalten können, als Gegengewicht zu diesen Monopolisierungsversuchen.

Alte Machtelite strebt in neue Regierung

Nun fliehen Teile der alten Machtelite in Massen, während andere bemüht sind, sich den Siegern anzuschließen. Heute haben die Mitglieder der regierenden Partei der Regionen, und sei es spät, die Revolution unterstützt, morgen werden sie sich auf die Seite der Konterrevolutionäre schlagen.

Die politische Szene der Ukraine muss gereinigt werden von Menschen, die den korrupten Staat aufgebaut haben. Die Ukraine muss nicht nur ihren Präsidenten neu wählen, sondern auch ihr Parlament. Auch müssen Strukturen aufgelöst werden, die Gewalt angewendet haben, vor allem die Berkut-Einheiten.

Die Ukrainer werden sich bald an den Westen wenden mit begründeten Forderungen. Sie werden die Rückkehr von Ressourcen verlangen, die Janukowitsch und die Oligarchen außer Landes geschafft haben. Die westlichen Regierungen werden begreifen müssen, dass es nicht funktioniert, repressiven Regimen mit Visa-Sanktionen und der Einfrierung von Konten zu drohen. Die Regime treffen schon ihre Vorkehrungen, um sich vor Sanktionen zu schützen.

Hier noch einige Fragen, denen der Westen sich stellen muss: Kehrt man zurück zu dem Assoziierungsabkommen mit der EU? Schreibt man in das Abkommen, dass die EU bereit ist, die Ukraine in Zukunft als Mitgliedsstaat aufzunehmen? Das versprachen die europäischen Minister in Kiew. Wie könnte ein Unterstützungspaket mit Beteiligung des IWF aussehen?

Ich denke, die Ukrainer werden auch verlangen, dass die territoriale Integrität ihres Landes garantiert wird. Sie werden die Frage einer Kooperation mit der Nato aufwerfen, womöglich durch eine Neubelebung des Membership Action Plan, einer Idee, die Deutschland 2008 ablehnte. Diese Fragen können nicht ohne die USA geklärt werden. Wie wird Europa diese Fragen beantworten angesichts des unvermeidlichen und kategorischen Njet aus dem Kreml?

In der Ukraine ist das postsowjetische Entwicklungsmodell zusammengekracht, das alle neue unabhängige Staaten (bis auf das Baltikum) prägt. Die Ukraine ist zu dem schwächsten Glied in der postsowjetischen Kette geworden. Man müsste im Auge behalten, dass ähnliche Umwälzungen auch in anderen Ländern möglich sind.

Das autoritäre Russland wird für den Erhalt jedes ähnlichen Regimes in der Region kämpfen. Für den Kreml ist es eine Existenzfrage. Denn jede Revolution in einem "Brudervolk" kann in der russischen Gesellschaft den Wunsch wecken, diesem Beispiel zu folgen.

Berliner Laisser-faire-Politik

Die ukrainische Krise hat gezeigt, dass in Ermangelung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik alle Augen auf Deutschland schauen. Ein fehlender Wille der EU in Sachen Ukraine kommt rüber wie der Wunsch Berlins, sich aus Krisen herauszuhalten. Die Gründe für diese Haltung sind nachvollziehbar.

Aber klar sind auch die Folgen - vor allem der Verdacht, die Bundesregierung (nicht die deutsche Gesellschaft!) mache lieber eine Status-quo-orientierte Laisser-faire-Politik, die ja den Kreml nicht erzürnen darf und die Interessen deutscher Firmen schützen soll. Diese Politik mag für Berlin wirtschaftliche Vorteile haben. Aber sie beraubt Deutschland des Anspruchs, demokratische Werte zu vertreten.

Zum Glück gibt es in Deutschland auch andere Ansichten. Bundespräsident Joachim Gauck sagte: "Politiker müssen immer verantworten, was sie tun. Sie müssen aber auch die Folgen dessen tragen, was sie unterlassen." Man darf deswegen hoffen, dass die Ukrainer nicht noch einmal von Europa enttäuscht werden. Und dass auch die demokratischen Kräfte in Russland ihre jetzige Enttäuschung von Europa überwinden können.

Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Lilia Shevtsova, 62, arbeitet in Moskau für den internationalen Thinktank Carnegie Endowment for International Peace.

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SZ vom 25.02.2014/resi/mati
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