Umbruch in Ägypten:Stunde der Hetzer

Umbruch in Ägypten: Mursi-Anhänger mit ägyptischer Flagge: Beide Seiten nutzen den gestürzten islamistischen Präsidenten als Druckmittel.

Mursi-Anhänger mit ägyptischer Flagge: Beide Seiten nutzen den gestürzten islamistischen Präsidenten als Druckmittel.

(Foto: AFP)

Die politische Auseinandersetzung in Ägypten ist derzeit so demokratisch wie eine Dorfschlägerei. Die wenigen besonnenen Stimmen auf beiden Seiten werden einfach niedergeschrien und der von der Armee festgehaltene Ex-Präsident Mursi dient als Druckmittel - für beide Seiten.

Ein Kommentar von Sonja Zekri, Kairo

Ägypten hatte lange Zeit den Ruf, zu nachsichtig mit seinen ehemaligen Autokraten umzuspringen. König Faruk durfte schwerreich ins Exil segeln, Hosni Mubarak verbringt seine Zeit als gut bewachter Privatpatient. Aber Mohammed Mursi?

Ein gestürzter Herrscher ist immer eine Last. Er ist die Symbolfigur für die Niederlage, aber auch für die Aussicht auf ein Comeback. Er ist ein Stachel im Fleisch einer Gesellschaft, die ihre alte Normen über Bord geworfen hat und sich ihrer neuen noch nicht sicher ist.

Mursi, der entmachtete Muslimbruder, wird von der Armee an einem unbekannten Ort festgehalten; "in Würde", wie die Regierung schwört, "entführt", wie seine Familie sagt, jedenfalls bislang ohne richterliche Entscheidung. Es gibt viele Vorwürfe gegen ihn, von Aufstachelung zur Gewalt bis Hochverrat. Die Justiz hat Mursi immer gehasst, ein faires Verfahren ist unwahrscheinlich, sein Schicksal also eine politische Entscheidung.

Mursis Anhänger verlangen, ihn wieder ins Amt einzusetzen - und sei es für eine Minute. Dann, ja dann werde er ein Referendum ausrufen, Neuwahlen, alle jene Zugeständnisse machen, die er vor seiner Entmachtung verweigert und so den Putsch geradezu erzwungen hatte. Natürlich hat diese Forderung wenig Aussicht auf Erfolg.

Die Armee badet in patriotischen Lobhudeleien und pflegt ihr Image als Vollstrecker des Volkswillens, während die meisten Ägypter die Realität der Militärherrschaft noch eisern verleugnen. Und die Muslimbrüder haben ihr Wort zu oft gebrochen, um glaubwürdig zu sein: Mursi in Freiheit würde so wenig zur Entspannung der Lage beitragen, wie es Mursi in Gefangenschaft tut. Mursi würde wieder versuchen, den Machtanspruch der Muslimbrüder so total durchzusetzen, wie er es im Amt getan hat.

Die Religiösen wollen den Staat herausfordern

Außerdem ist die Frage, ob Mursi für seine Anhänger im derzeitigen Zustand nicht nützlicher ist. Als fernes Opfer politischer Gewalt, unsichtbar, unerreichbar, und damit ein täglich größeres Problem für all jene Staaten, die die neuen Machthaber als Garanten für den demokratischen Übergang und nicht als Usurpatoren behandeln wollen.

Die politische Auseinandersetzung in Ägypten ist derzeit so demokratisch wie eine Dorfschlägerei. Alle Beteiligten - Pseudoliberale, Mubarak-Getreue, Armee, Islamisten - träumen davon, den Gegner wenn nicht ganz auszulöschen, dann wenigstens unschädlich zu machen. Zwar ist keine Seite dazu stark genug. Das aber hindert niemanden daran, es zu versuchen. Wer verlangt, dass die Muslimbrüder - vor zwei Jahren noch ins Parlament getragen von der Hälfte der Wahlberechtigten -, nun als Terrororganisation behandelt werden, der bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der Islamisten. Und Verzweiflung ist ein gefährlicher Berater.

Insgeheim mögen die Muslimbrüder eine vorsichtige Fehleranalyse betreiben. Aber sie verblasst gegenüber der Illusion, dass der Liebesentzug durch die Ägypter nur die Folge einer Manipulation durch Medien, Geheimdienst, Polizei und natürlich Amerika ist, kurz: eine vorübergehende Verirrung. Die Religiösen glauben, sie müssten nur den Druck der Straße lange genug aufrechterhalten, den Staat durch die Lähmung des öffentlichen Lebens und durch Proteste vor Botschaften oder Ministerien herausfordern - dann werde dieser hart zurückschlagen, die Ägypter würden die Fratze des repressiven Regimes erkennen und den Putsch bedauern. Dieses Denken ähnelt entfernt der "direkten Aktion" im Deutschen Herbst, nur ist der Todeskult der Ägypter deutlich ausgeprägter.

Es ist die Stunde der Straße, des Geschreis, der Hetzer. Und die wenigen besonnenen Stimmen auf beiden Seiten werden einfach niedergeschrien.

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