Süddeutsche Zeitung

Umbruch im Nahen Osten:Syrien ist nur der Anfang

"Assad, ja oder nein?", das ist im syrischen Bürgerkrieg nicht mehr die entscheidende Frage. Sie lautet: Wie sieht die Landkarte des Nahen Ostens aus, wenn der Arabische Frühling beendet ist? Frieden wird erst herrschen, wenn die kolonialen Grenzen eingerissen sind.

Michael Wolffsohn

Geschichte, Vergangenheit rächt sich in der Gegenwart. Das beweist der syrische Bürgerkrieg. Er ist Vorbote großer Umgestaltungen innerhalb und außerhalb des Nahen Ostens. Längst geht es nicht mehr um "Assad, ja oder nein?". Über kurz oder lang ist mit einer völligen Umformung der nahöstlichen und teils auch außernahöstlichen Staatenwelt zu rechnen. Auseinanderbrechen wird, was auseinanderbrechen will. Zusammenwachsen wird, was zusammengehört und will, doch nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg nicht durfte. Die nachkoloniale Welt in Nahost und Afrika wird zusammenbrechen. Das tut sie hier und dort bereits.

Syrien entstand nach dem Ersten Weltkrieg als Folge der Zerschlagung des osmanisch-türkischen Reichs, das bekanntlich ein Vielvölkerstaat war. "Selbstbestimmung der Völker", hier der Araber, hieß die Etikette. Es war meistens ein Etikettenschwindel. In Nahost führten dabei Großbritannien und Frankreich die Regie. Ihre vorstaatlichen, später staatlichen Kunstprodukte Syrien, Libanon, Mesopotamien beziehungsweise Irak und Palästina ließen sie sich 1920 vom UN-Vorläufer, dem Völkerbund, absegnen.

In einen Syrien genannten Rahmen wurde die sunnitische Mehrheit mit quasi-schiitischen Alawiten, Christen und Kurden zusammengebracht. Nur eine Sache einte sie: Sie wollten nicht in einem staatlichen Verbund zusammenleben. So wenig wie die Christen im nun ebenfalls von Frankreich formierten und gelenkten Libanon mit Sunniten, Drusen und Schiiten.

Seit der Entstehung der Kunststaaten gärt es

Großbritannien presste Schiiten, Sunniten, Kurden und Christen zum Kunststaat Irak zusammen. Die jeweiligen Bevölkerungsgruppen waren über diese fremdgesteuerte "Selbstbestimmung" so begeistert wie ihre arabischen Brüder in Syrien, Libanon und Palästina, zu dem das heutige Israel, das Ost- und Westjordanland sowie der Gaza-Streifen gehörten. Hier "durften" die palästinensischen Araber mit den eingewanderten Juden unter Londons Aufsicht konkurrieren und sich wechselseitig massakrieren.

Schon 1921 raubten die Briten beiden das Ostjordanland und übergaben es der arabischen Haschemiten-Familie, die zuvor aus dem Westen der Arabischen Halbinsel von der ebenfalls arabischen Saud-Dynastie vertrieben und noch früher von den Engländern verraten worden war. Seitdem herrscht die Haschemiten-Familie, gestützt von der beduinischen Minderheit, über die Mehrheit der einheimischen Palästinenser. Diese stellen etwa zwei Drittel der jordanischen Bevölkerung dar.

Seit der Entstehung dieser Kunststaaten gärt es. Konflikte wurden mehrfach ausgefochten, nicht nur mit Worten, oft auch mit Gewalt. Doch nie war das Binnengefüge der Kunststaaten so fragil wie jetzt. Ihr Zusammenbruch ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Staatenkarte des Nahen Ostens wird dann ganz anders aussehen. Das ist durch Demografie, Ethnologie und Theologie der Region programmiert. Nur das Wann und Wie ist offen.

Wie könnte die neue Nahost-Staatenwelt aussehen? Sie wird nicht mehr zentralistisch, sondern eher föderativ, bundesstaatlich, teils auch konföderativ sein. Die syrischen, libanesischen und irakischen Sunniten formen einen neuen Staat. Die quasi-schiitischen Alawiten Syriens bilden mit den Schiiten Libanons eine Föderation. Die in Irak autonomen, fast schon unabhängigen Kurden werden sich mit den syrischen und über kurz oder lang türkischen sowie iranischen Kurden zu einer Kurdischen Bundesrepublik oder Konföderation zusammenschließen.

Spätestens beim Zerfall Iraks bildet die schiitische Mehrheit des Landes eine Föderation mit Iran. Iran wird aber auch verlieren: den azerisch-türkischen Nordwesten an Aserbaidschan und Belutschistan im Osten an den neuen Staat Belutschistan, der zusätzlich sowohl Pakistan als auch Afghanistan spalten und in seine ethnisch religiösen Bestandteile auflösen wird.

Der Flüchtlingsstrom aus Syrien, bisher zirka 150.000 Menschen, destabilisiert die ohnehin schon schwächelnde Minderheitsmonarchie Jordaniens. Bei dieser Flüchtlingszahl wird es nicht bleiben, viele der je rund 400.000 Palästinenser aus Syrien und Libanon werden folgen. Die Palästinensermehrheit Jordaniens wird daher weiter wachsen, demnächst die Macht ergreifen und Jordanien zu Palästina-Jordanien umformen. Diesem wird sich das palästinensische Westjordanland anschließen. Es entsteht die Bundesrepublik Palästina-Jordanien-Westjordanland (BRPJW).

Es wird zur Explosion kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit

Israel wird zustimmen, und der Palästinenserstaat zahlt folgenden Preis: Die etwa 500.000 jüdischen Siedler, einschließlich derjenigen in Ost-Jerusalem, bleiben als Staatsbürger Israels Einwohner des Westjordanlandes. Im Austausch haben die palästinensischen Araber Israels die Wahl: Sie können Einwohner Israels bleiben und sich wie bisher für die Staatsbürgerschaft Israels oder neu der BRPJW entscheiden. Das wiederum sichert den jüdischen Charakter des jüdischen Staates, aber im Gegensatz zu früher mit Zustimmung der Palästinenser.

Die Palästinenser im Gaza-Streifen bilden entweder ein Bundesland Gaza in der BRPJW oder in Ägypten. Ägypten steht vor dieser Alternative: Entweder erhalten die Kopten - circa zehn Prozent der Staatsbürger - weitgehende Autonomie oder es gibt einen Bürgerkrieg zwischen der zunehmend islamischen Mehrheit und der christlichen Minderheit.

Föderale Strukturen wird auch Libyen aufbauen müssen. Andernfalls zerbricht dieser Kunststaat, wie Sudan bereits in Nord und Süd und Mali zerbrochen ist. Gleiches steht den meisten Kunststaaten Nordwestafrikas bevor. Längst hat die Arabische Revolution auch Bahrain und Saudi-Arabien erfasst. Nur zur Explosion ist es noch nicht gekommen. Das ist nur eine Frage der Zeit.

Zuerst dürfte Bahrain kippen. Hier wird die schiitische Mehrheit die Macht übernehmen und einen wie auch immer gearteten Verbund mit dem schiitischen Iran und den Schiiten Saudi-Arabiens bilden. Diese leben im Osten des ölreichen Königreichs, wo das schwarze Gold der Saudis liegt. Was einen schiitischen Bogen von Iran über das heutige Süd-Irak ins ölsprudelnde Bahrain und Ost-Saudi-Arabien für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft des Westens bedeutet, kann sich jeder leicht ausmalen.

Die Zeichen an der Wand sind erkennbar. Wer schaut hin? Politiker, Publizisten und Experten blicken auf das Blatt namens Assad und den Baum Syrien. Was sehen sie vom, was empfehlen oder planen sie für den nahöstlichen Wald? Nichts. Das ist zu wenig. Ohne Diagnose und Prognose keine Therapie. Sie hat einen Namen: Selbstbestimmung nicht durch nationalstaatliche, sondern föderative Strukturen.

Michael Wolffsohn, 65, ist Historiker und Publizist. Von 1981 bis 2012 lehrte er Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Wolffsohn schrieb unter anderem das Buch "Wem gehört das Heilige Land?".

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SZ vom 21.08.2012/sana
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