Ukraine:Wenn die Moral der Soldaten sinkt

Ukraine: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij posiert am 18. Juni für ein Foto mit Soldaten im Süden des Landes.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij posiert am 18. Juni für ein Foto mit Soldaten im Süden des Landes.

(Foto: Ukrainian Presidential Press Service/Reuters)

Die Verluste von Russen und Ukrainern gehen bereits in die Zehntausende, doch der Krieg könnte sich noch Jahre hinziehen. Für die Ukraine wird ein Mangel an Munition zum wachsenden Problem.

Von Florian Hassel, Kiew

Es wirkt auf den ersten Blick eindrucksvoll, was der ukrainische Generalstab am Sonntag über den Stand des Kampfes gegen die russische Armee präsentierte. Seit Beginn des russischen Großangriffes am 24. Februar habe Russland fast 5000 Panzer und Schützenpanzer verloren, Hunderte Flugzeuge, Helikopter und Artilleriegeschütze, und dazu: 33 600 Soldaten.

Ein komplettes russisches Regiment - bis zu mehrere Tausend Mann -, sei gezwungen gewesen, sich von der Front in der Ostukraine zurückzuziehen, "um seine Kampffähigkeit wiederherstellen", erklärten die Ukrainer am Samstag. Und Mark Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, zufolge haben die Russen "20 bis 30 Prozent ihrer Streitkräfte verloren". Diese Verluste seien gewaltig und zeigten, dass "die Ukrainer einen sehr effektiven Kampf führen", stellte General Milley am 15. Juni fest.

Doch auch die ukrainischen Verluste gehen mittlerweile offenbar in die Zehntausende. Präsident Selenskij sprach schon vor Wochen von bis zu 200 Toten und 500 verwundeten Soldaten täglich. Seitdem sind die ukrainischen Verluste nochmals dramatisch angestiegen: Dawyd Arachamija, Chef der Präsidentenpartei "Diener des Volkes" im ukrainischen Parlament und enger Vertrauter Selenskijs, sagte am 15. Juni bei einem Besuch in Washington, im Donbass stürben jeden Tag zwischen 200 und 500 ukrainische Soldaten, noch mehr würden verletzt. Die Verluste seien in den vergangenen zwei Wochen deutlich gestiegen.

Zwar ist der Frontverlauf in der Ostukraine, zurzeit Schauplatz der heftigsten Kämpfe, seit Wochen vergleichsweise stabil. Noch haben es die russischen Streitkräfte nicht geschafft, etwa in der Region Luhansk deren temporären Verwaltungssitz Sjewjerodonezk einzunehmen. Auch Angriffe in Richtung der weiter westlich liegenden Schlüsselstädte Slowjansk und Kramatorsk kommen kaum voran, stellt auch das Washingtoner Institut für Kriegsstudien (ISW) fest.

Im besten Fall dauert es Wochen, bis moderne Raketenwerfer kommen

Doch die Kosten für die Ukrainer sind gewaltig. Dem US-Generalstabschef zufolge seien die Russen bei Waffen überlegen - das ist anderen Angaben zufolge noch milde ausgedrückt. Der Londoner Independent berichtete am 9. Juni über ein Dossier westlicher Geheimdienste: Demnach seien die ukrainischen Streitkräfte bei der Artillerie im Verhältnis 20:1 und im Bereich der Munition 40:1 unterlegen.

Vor allem sei den Ukrainern die Artilleriemunition mit Reichweite von 50 bis 70 Kilometern ausgegangen, mit der sie in den ersten Kriegsmonaten die russische Offensiven erfolgreich gestoppt habe. "Ein konventioneller Krieg kann nicht gewonnen werden, wenn deine Seite zigfach weniger Waffen hat, deine Waffen den Feind nur auf kürzere Entfernung treffen und du bedeutend weniger Munition als der Feind hast", so das Fazit. Und selbst im besten Fall vergehen noch Wochen, bis moderne, teils satellitengesteuerte britische und US-Raketenwerfersysteme in der Ukraine eintreffen, die einen spürbaren Unterschied machen könnten.

Das ukrainische Militär, das ISW und der britische Militärgeheimdienst berichten in ihren öffentlichen Kommentaren über eine sinkende Moral russischer Soldaten. Doch auch die Ukrainer haben angesichts ihrer materiellen Unterlegenheit und daraus resultierenden explodierenden Verlustzahlen zunehmend Probleme. Der britische Militärgeheimdienst stellte am Samstag fest, die Ukraine habe möglicherweise Desertionsprobleme - das ist offenbar geschönt: Das Geheimdienstdossier, über das der Independent am 9. Juni berichtete, stellte bereits fest: "Fälle von Desertion wachsen jede Woche."

In sozialen Medien wie Tiktok tauchen zunehmend Berichte oder Videos unzufriedener ukrainischer Soldaten auf, die über die miserable Versorgung klagen. Am 4. Juni etwa beschwerten sich Dutzende Soldaten der 3. Kompanie des 66. Bataillons der ukrainischen Armee, sie seien ohne jede schwere Waffen und mit lediglich "sechs Magazinen Patronen pro Mann" an die Front geschickt worden. "Wir sind bereit, für die Ukraine zu kämpfen, aber wir können nichts gegen Panzer, Granatwerfer und Artillerie ausrichten", klagte der Kommandeur. Tote würden nicht weggebracht, ein Verwundeter sei drei Tage lang unversorgt geblieben. "Wir haben keine Funkgeräte, keine Ferngläser, keine Nachtsichtgeräte, keinerlei Kommunikationsmittel" und nun nicht einmal mehr "Munition für die Maschinengewehre".

Selenskij besucht die Front

Präsident Wolodimir Selenskij besuchte am Samstag die Frontstadt Mykolajiw und die Hafenstadt Odessa. "Wir werden den Süden niemandem überlassen, wir werden alles zurückholen, was unser ist, und das Meer wird ukrainisch sein", erklärte der Präsident. Wichtigstes Offensivziel der Ukrainer ist eine Rückeroberung der Region Cherson - bisher allerdings ist die ukrainische Armee dabei wohl angesichts ihrer materiellen Unterlegenheit wenig vorangekommen.

Frühestens Ende Juni wird die ukrainische Armee endlich moderne Raketensysteme etwa vom Typ HIMARS bekommen, die an der Front einen spürbaren Unterschied machen können, sagte US-Generalstabschef Milley am 15. Juni. Bis jetzt seien indes gerade 60 ukrainische Soldaten etwa im HIMARS-Gebrauch ausgebildet worden. Bis die Ukrainer "Artillerie mit großer Reichweite im Kampf" verwenden können, würden noch "ein paar Wochen vergehen".

Wochen dürften im Krieg gegen Russland letztlich zweitrangig sein. Sowohl Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wie Großbritanniens Premierminister Boris Johnson schworen die Öffentlichkeit am Wochenende auf einen möglicherweise noch jahrelangen Krieg ein. Johnson schrieb nach einem Besuch in Kiew in der Londoner Sunday Times: "Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen." Russlands isolierter Präsident Wladimir Putin denke womöglich immer noch, dass eine "totale Eroberung" der Ukraine möglich sei.

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