Süddeutsche Zeitung

Opfer und Verluste:Krieg der Zahlen

Die Angaben über die Verluste beider Seiten gehen weit auseinander. Warum es so schwer ist, verlässliche Statistiken zur militärischen Lage in der Ukraine zu bekommen.

Von Nicolas Freund

Das erste Opfer des Krieges ist bekanntlich die Wahrheit, das gilt für Zahlen allemal. Täglich werden zum Krieg in der Ukraine Tabellen und Statistiken veröffentlicht: gefallene Soldaten, getötete Zivilisten und zerstörte Panzer. Zum Beispiel auf der ukrainischen Nachrichtenseite Kyiv Post. Dort ist eine ständig aktualisierte Tabelle zu finden mit allen Verlusten der russischen Streitkräfte seit Beginn der Invasion. Stand Dienstag: unter anderem 27 900 Soldaten, 1235 Panzer und 13 Schiffe. Die Zahlen decken sich mit den Angaben des ukrainischen Generalstabs, die regelmäßig und mit teils sehr reißerischen Videos veröffentlicht werden. Diese zeigen aber nicht immer neue Aufnahmen und sind deshalb kein Beleg, auch wenn sie das wohl suggerieren sollen.

Wie verlässlich sind solche Zahlen also? Die ukrainische Armee hat ein Interesse, die Verluste der Gegenseite möglichst hoch erscheinen zu lassen, schon allein, um die Moral der eigenen Truppen zu stützen. Über die eigenen Verluste wiederum bewahrt die Ukraine strengstes Stillschweigen. Deshalb ist davon auszugehen, dass, wenn es dazu überhaupt Angaben gibt, diese Zahlen im Zweifel geschönt sind.

Die offiziellen Zahlen aus Russland wiederum taugen nicht zum Abgleich und weichen sogar ganz erheblich von der ukrainischen Version ab. Moskau veröffentlicht nur selten solche Statistiken, und wenn, dann liegen die eigenen Verluste wesentlich niedriger als nach Angaben der Ukraine, meist im niedrigen vierstelligen Bereich. Es ist davon auszugehen, dass Russland versucht, die wirkliche Höhe der eigenen Verluste zu verschleiern, obwohl Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow schon im April von "bedeutenden Verlusten" sprach, ohne diese jedoch genau zu beziffern. Die offiziellen russischen Zahlen sind, nach allem was über den Kriegsverlauf bekannt ist, reine Fantasie.

Der britische Militärgeheimdienst gab zuletzt am Sonntag eine eigene Einschätzung der Lage heraus und blieb dabei im Gegensatz zu den Kriegsparteien sehr vage: Russland habe bisher etwa ein Drittel seiner in dem Krieg eingesetzten Streitkräfte verloren. Wie viele Soldaten und Panzer das nun genau sind, ist allerdings unklar. Schätzungen gehen von 150 000 bis 200 000 Soldaten aus, die Russland für die Invasion zusammengezogen hatte. Die Meldung der Briten würde also bedeuten, dass Russland in dem Konflikt bislang mindestens 50 000 Soldaten verloren hat - eine wesentlich höhere Zahl als die von der Ukraine angegebene.

Das klingt viel, ist aber nicht unwahrscheinlich. Denn verloren ist hier nicht gleichbedeutend mit gefallen, sondern umfasst auch verwundete, vermisste sowie in Gefangenschaft geratene Soldaten, und schon aus dieser Aufzählung lässt sich erahnen, dass genaue Zahlen in diesen Fällen nur schwer zu ermitteln sind, besonders, solange noch gekämpft wird. Leichter geht die Ermittlung von Verlusten bei der Ausrüstung. Zerstörte Panzer und andere Fahrzeuge am Wegesrand lassen sich - etwa mithilfe von Satellitenaufnahmen - leichter zählen als Soldaten.

Die UN dokumentieren penibel die zivilen Opfer des Krieges

Der Blog Oryx zum Beispiel, auf den sich manche Medien wie der britische Economist beziehen, zählt diese Verluste beider Seiten auf der Grundlage von Fotos und Videos. Oryx kommt aktuell auf 1045 verlorene Fahrzeuge der ukrainischen Armee und 3675 verlorene russische Fahrzeuge, darunter 671 Panzer, also etwa nur halb so viele, wie die Kyiv Post und der ukrainische Generalstab behaupten. Oryx gibt aber an, nur Fahrzeuge zu zählen, für deren Zerstörung und Eroberung es Beweisbilder gibt. Die tatsächlichen Zahlen sollen höher sein. Diese Methode des fotografischen Beweises ist natürlich fehleranfällig, denn nicht jedes Bild lässt sich geolokalisieren und eindeutig dem Krieg in der Ukraine zuordnen. Eine grobe Zahl der tatsächlichen Verluste lässt sich aus einer Kombination solcher Quellen aber immerhin erahnen.

Einblicke, wie schwierig es ist, ganz genaue Zahlen über Verluste in einem Krieg zu ermitteln, geben die Vereinten Nationen (UN), die regelmäßig einen Bericht über die zivilen Opfer des Krieges in der Ukraine veröffentlichen. Ihre Statistiken beruhen auch auf Fotos und Behördenangaben, werden dann allerdings durch Zeugenberichte, Besuche an Tatorten und weitere Quellen verifiziert. Ein sehr aufwendiger Prozess, an dessen Ende aber verlässliche Zahlen stehen. So zählten die UN bis 16. Mai 3668 getötete und 3896 verletzte Zivilisten; die meisten wurden Opfer von Angriffen mit Raketen und Artillerie. Auch diese Zahlen dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit viel zu niedrig sein, wie die UN selbst angeben. Denn es kann dauern, einen möglichen Todesfall zu verifizieren, natürliche Ursachen auszuschließen und dafür auch noch vertrauenswürdige Quellen zu finden. An diesem Aufwand für jeden individuellen Toten führt aber kein Weg vorbei, wenn am Ende eine Dokumentation der Opfer stehen soll. Und eben nicht nur eine Statistik.

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