Ukraine und Russland:Mit dem Flugzeug in die Freiheit

Ukrainian film director Sentsov, who was jailed on terrorism charges in Russia, gets off a plane upon arrival at Boryspil International Airport in Kiev

Einer von 70 ausgetauschten Gefangenen: Der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzoz, der seit 2014 in Russland im Gefängnis saß.

(Foto: Gleb Garanich/Reuters)

Die Ukraine und Russland tauschen 70 Gefangene aus und wollen nach der größten derartigen Aktion seit 2014 weiter verhandeln - doch ihr Deal stößt auch auf Kritik.

Von Florian Hassel, Warschau

Russland und die Ukraine wollen nach dem größten Austausch von Gefangenen seit Beginn des Krieges in der Ostukraine 2014 über den weiteren Austausch von Gefangenen verhandeln. Zudem wollen sie - unter Beteiligung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron - auch über ein Ende des Krieges sprechen. Gleichzeitig wurden in den Reaktionen nach dem erfolgreichen Austausch am Samstag auch die unterschiedlichen Erwartungen und Bruchlinien sichtbar.

Russland und die Ukraine hatten am Samstag jeweils ein Flugzeug geschickt, um in Kiew und Moskau jeweils 35 Gefangene abzuholen. Unter den Ukrainern, die von Präsident Wolodimir Selenskij und ihren Verwandten begrüßt wurden, waren der seit 2014 in Russland gefangene, von der Krim stammende Filmregisseur Oleg Senzoz und 24 Seeleute, die Russland Ende November 2018 nach einer rechtswidrigen Kaperung von Booten der ukrainischen Marine vor der Seeenge von Kertsch gefangen genommen hatte.

Auch Wolodomir Zemach, Zeuge des Abschusses des Flugs MH-17 mit 298 Toten, wurde ausgeliefert

Die 35 ausgetauschten Russen waren russische und ukrainische Staatsbürger, die im von Moskau organisierten Krieg im Donbass für die "Volksrepubliken" in Donezk und Lugansk gekämpft hatten. Kiew lieferte an Moskau auch Wolodimir Zemach aus, den ehemaligen Kommandeur einer Luftabwehreinheit. Zemach hatte am 17. Juli 2014 mitverfolgt, wie eine russische Militäreinheit vom Rebellengebiet irrtümlich die Boeing MH-17 der Malaysia Airlines abschoss, und geholfen, das russische Buk-Raketensystem zurück über die Grenze nach Russland zu bringen.

Bei dem Abschuss starben 298 Menschen, vor allem holländische Staatsbürger. Holland, das in Den Haag einen Prozess gegen mehrere angeklagte Russen vorbereitet, bat Kiew erfolglos, Zemach nicht Moskau zu übergeben.

Hollands Außenminister Stef Blok sagte am Samstag, der Gefangenenaustausch sei verzögert worden, damit Zemach noch in Kiew verhört werden konnte. Der Holländer Piet Ploeg, der bei dem Absturz Bruder, Schwägerin und Neffen verlor, sagte der Moscow Times, er verstehe, dass die Entscheidung zu Zemach für Kiew schwierig gewesen sei. "Doch die Verwandten der MH-17-Opfer sind alle sehr enttäuscht. Wir glauben, Zemach hätte nie in diesen Austausch einbezogen werden dürfen." Hollands Generalstaatsanwalt beantragte am Samstag in Moskau offiziell die Auslieferung Zemachs. Präsident Selenskij gab sich nach vollzogenem Austausch optimistisch: Als nächstes werde die Ukraine "der Befreiung aller (Gefangenen, Anm. d. Red.) näherkommen", sagte er. Selenskij nannte vor allem Krimtataren. Kiew zufolge sind auf der völkerrechtswidrig von Moskau annektierten Krim und in Russland mindestens 120 Ukrainer gefangen, die Kiew als politische Gefangene betrachtet. Für den Donbass kündigte Selenskij an, dass man "den gegenseitigen Truppenrückzug fortsetzen" werde. Letzter Schritt sei schließlich, die Regionen Donezk und Lugansk wieder unter die Kontrolle der Ukraine zu bekommen.

Später telefonierte Selenskij mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Der Kreml-Pressedienst betonte "den humanitären Aspekt der Aktion, die große Bedeutung für die Normalisierung (...) der beidseitigen Beziehungen hat". Doch für ein Gipfeltreffen zwischen Putin, Selenskij, Merkel und Macron - dem Normandie-Format - seien "allseitige Vorbereitungsarbeiten" nötig, damit ein Treffen "Resultate bringt und real auf höchster Ebene die Erfüllung der existierenden Verpflichtungen ermöglicht, vor allem des Minsker Maßnahmenkatalogs" vom 12. Februar 2015. Der Kreml betonte zudem "die Problematik der innerukrainischen Regulierung".

Diese Schlüsselbegriffe "Minsker Maßnahmenkatalog" und "innerukrainisch" bedeuten, dass Moskau seine Verantwortung und Organisation des Krieges in der Ostukraine nach wie vor bestreitet und darauf besteht, dass Kiew mit den Führungen der "Volksrepubliken" verhandelt. Der Minsker Maßnahmenkatalog verpflichtet Russland zum Abzug aller Einheiten und Militärtechnik aus der Ostukraine. Alle Rebelleneinheiten müssen zudem ihre Waffen abgeben und aufgelöst werden. Kiew müsste seinerseits seine Verfassung ändern und ein Gesetz über einen Sonderstatus - sprich: Autonomie - für die Regionen Donezk und Lugansk ebenso verabschieden wie sich mit Wahlen dort einverstanden erklären. Real würde damit Moskaus Dominanz über die Ostukraine festgeschrieben.

Einfacher als die Umsetzung solcher Verpflichtungen, die innenpolitisch in der Ukraine hoch umstritten wären, könnte der Austausch weiterer Gefangener werden. Dem ukrainischen Geheimdienst SBU zufolge werden neben den Gefangenen auf der Krim in der Ostukraine weitere 227 Ukrainer "illegal gefangengehalten". Die russische Agentur Interfax meldete unter Berufung auf "eine informierte Quelle" - gewöhnlich ist damit ein Kreml-Mitarbeiter gemeint -, bereits am 18. September werde in Minsk im Rahmen der sogenannten Kontaktgruppe über einen weiteren Austausch aller bekannten Gefangenen - 200 Ukrainer gegen 70 Russen - zwischen Kiew und den "Volksrepubliken" verhandelt.

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