Ukraine und Russland:Gegen den Bruder - für die Einheit

Crisis in Ukraine

Ukrainer werden in Kiew als Soldaten vereidigt - kurz bevor sie in den Osten des Landes aufbrechen.

(Foto: dpa)

Den Osten des Landes aufgeben? Dazu sind die Ukrainer nicht bereit. Lieber melden sie sich freiwillig für das, was Präsident Poroschenko den "neuen Typ eines Krieges" nennt - und kämpfen gegen den früheren Bruder.

Von Frank Nienhuysen, Kiew

Die Leichen an der Absturzstelle werden noch geborgen, der Zugang der Experten ist noch nicht gesichert, da erinnert der Präsident daran, dass der Konflikt sich derweil weiterdreht. Vom "Stadium eines Krieges", redet Petro Poroschenko, von einem "neuen Typ eines Krieges". Es ist kein Zufall, dass er sich ausgerechnet die Absolventen der ukrainischen Verteidigungsakademie ausgesucht hat, die er nun beschwört, denen er nun erklärt, was er denn meint mit diesem neuen Typ. Jahrelang sei die ukrainische Armee "systematisch vernichtet" worden, er habe "entblößte Soldaten ohne Ausrüstung" angetroffen. Jetzt aber versucht Poroschenko Siegeszuversicht zu streuen. Denn "außer professionellen Soldaten", sagt er, "sind auch noch Freiwillige und Bewohner der umkämpften Regionen" beteiligt. Am Montag ist deutlich geworden, wie weit abseits der Absturzstelle der MH17 der Krieg im Osten nicht daran denkt, innezuhalten. Die Bewohner von Donezk wurden sogar aufgerufen, in ihren Wohnungen zu bleiben.

Es gab Kämpfe am Bahnhof, Geschosse setzten mehrgeschossige Häuser in Brand, auch in Lugansk gab es Berichte über Gefechte, Einschläge, Brände. Der Ring um Gorlowka und Donezk sei enger gezogen worden, erklärte die ukrainische Regierung, 35 Kämpfer seien festgenommen worden, sagte Verteidigungsminister Walerij Geletej. Kiew wirkt entschlossen, "Ordnung und ein geregeltes Leben in die Städte und Dörfer der Ukraine zu bringen", wie Poroschenko es formuliert. Aber das dürfte schwierig werden, wenn wiederum stimmt, was Andrej Lysenko, Sprecher des ukrainischen Sicherheitsrats, sagt: dass nämlich die Separatisten "Zivilisten in ihren Wohnungen aufsuchen und sie zu zwingen versuchen, sich ihnen anzuschließen".

Poroschenko steht unter dem Druck seiner Wähler

Klar ist, dass Poroschenko, der mit großer Mehrheit gewählt und vor sechs Wochen als Präsident vereidigt wurde, unter extremem Druck seiner Wähler steht, den Osten der Ukraine zurückzugewinnen, zu befreien aus den Händen der Separatisten. Die Kontrolle über Slawjansk hat die ukrainische Regierung wieder, und auch in der Ortschaft Dserschinsk flattere seit Montag wieder die blau-gelbe Flagge, meldete die Agentur Unian. Aber bis zur Kontrolle von Donezk und Lugansk ist es noch weit.

Einer wie Jewgenij Kotlarow macht das ziemlich deutlich. Ein großer, kräftiger Mittdreißiger in Camouflage-Uniform, der raucht und sagt: "Die Regierung müsste den Notstand im Osten ausrufen, sie verschließt die Augen. Das ist echter Krieg." Er selbst will da jetzt hin. Der Mann steht im Kiew am Europa-Platz und wartet, dass der Bus, der schon bereit steht mit geöffneter Seitenklappe, ihn in den Osten fährt. Säcke mit Klamotten stehen am Rand, in Plastik verpackte Paletten mit Mineralwasser. Wohin genau die Reise für ihn geht, das wisse er nicht. Kotlarow ist einer jener Freiwilligen, die sich nach Ende der Fahrt im Osten melden sollen, sich einschreiben bei den Bataillonen und dann von den ukrainischen Streitkräften dorthin gebracht werden, wo sie benötigt werden.

Nach einem Bericht der Kyiv Post sind derzeit im Osten, in den Gebieten Donezk und Lugansk, mehr als 30 000 Soldaten im Einsatz, 2000 von ihnen seien Freiwillige. Ohne sie scheint die ukrainische Regierung, scheint Präsident Poroschenko nicht auskommen zu wollen. Schon einmal war Kotlarow im Osten, sagt er, in Snischnje. Nun also das zweite Mal, und wieder weiß er nicht, wie lange er weg sein wird. Der 36-Jährige sagt, er habe sogar einmal einen russischen Pass gehabt, habe für Russland einst in Tschetschenien gekämpft, aber dann lernte er seine jetzige Frau kennen, die aus der Ukraine kommt, wie seine Großeltern. Und so ging er zurück in das Land, das eigentlich ein Bruderstaat Russlands ist.

"Moskau hat Einfluss auf die Separatisten"

"Moskau hat Einfluss auf die Separatisten", davon gibt er sich überzeugt. Aber er glaubt nicht, dass sich so bald etwas ändern wird, dass sich die Lage auf absehbare Zeit beruhigen könnte. Angst? "Nur Dummköpfe fürchten sich nicht", sagt er, bläst den Rauch davon und stellt sich zu den anderen, die mit ihm mitfahren werden an die rauchende Front.

Es ist schwierig, in Kiew jemanden zu treffen, der bereit wäre, einen hohen Preis zu zahlen. Nämlich einfach aufzugeben, den Osten der Ukraine ziehen zu lassen, damit endlich Ruhe einkehren könnte auch in die ukrainische Hauptstadt. Aber die Einheit des Landes ist den meisten Menschen ein allzu hohes Gut. Das ist überall zu sehen. Am Rande des Europaplatzes, an dem die blau-gelben Sternenbanner der Europäischen Union wehen, sind von Weitem sichtbar ein paar Blumenbeete angeordnet. So wie in anderen Städten die bunten Blumen den Namen eines Badeortes ergeben oder einfach "Welcome", so sagen die in den steilen grünen Grashügel gepflanzten Blüten hier: "Einige Ukraine", links auf Kyrillisch, rechts noch einmal auf Englisch. Dazwischen blau-violette und gelbe Pflanzen als die Nationalfarben der Ukraine. Sogar einige Polizeiwagen, die von hier aus hinunter in den unteren Stadtteil fahren, zum Fluss Dnepr, haben Fähnchen an ihr Auto gesteckt, als liefe gerade die Fußball-WM, und die Ukraine wäre dabei.

"Russland ist doch immer unser Bruder gewesen"

Es ist ja auch nicht so, dass der Osten abstrakt und fern wäre für die Menschen in Kiew. Eine Welt, die sie nur aus dem Fernsehen kennten. Alexander Leonidowitsch hat einen großen Strauß Rosen gekauft und abgelegt vor der niederländischen Botschaft, noch immer entsetzt von dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs, von den vielen Toten. Er lebt in Kiew, aber er ist oft unterwegs im Osten. Seine Firma hat eine Filiale in Donezk, das heißt, sie hatte dort eine Filiale. Sie wurde ausgeraubt in den Wirren der Anarchie, dann wurde sie geschlossen und nach Dnjeprpetrowsk verlegt. Der Staat konnte sie nicht mehr schützen.

Alexander Leonidowitsch sagt, er kenne die Berichte aus Russland, die Behauptungen, in Kiew regiere eine Junta. Ganz ruhig sagt er: "Sie sollen mal hierher kommen, sie wüssten dann, dass es hier anders ist. Russland ist doch immer unser Bruder gewesen." Und nun zweifelt er an diesem Bruder. "Ich weiß nicht, ob man es schafft, mit Moskau einen Weg zu finden, nach allem, was geschehen ist." Vielleicht würde sich Russland verändern durch schärfere Sanktionen. "Aber wohl erst in ein, zwei Jahren, wenn das Lebensniveau gesunken ist."

Auch Olha Jurtschenko ist Kiewerin, und auch sie hat Bindungen zum Osten ihres Landes. Ihr Mann kommt von dort, Verwandte, Freunde leben noch immer in Slawjansk, das lange als Hochburg der prorussischen Separatisten galt, ehe diese abzogen Richtung Donezk. Sie sagt, nicht ihre Tante und auch nicht ihre anderen Verwandten und Bekannten wollten Teil Russlands werden. "Sie wissen gar nicht, wer da überhaupt auf diese Idee gekommen ist. Es wird so viel Unsinn erzählt." Die Juristin ist müde, müde von dem Konflikt, von den Sorgen, die sie umtreiben. Anfangs war es ja die Korruption des alten Regimes gewesen, die sie verschwinden sehen wollte. Jetzt ist es längst mehr. "Ich will nur, dass man die Ukraine in Ruhe lässt. Dass mein Sohn in einem Land aufwächst, in dem niemand vorschreibt, was man zu tun hat. All die Schlüsselfiguren im Osten, das sind doch keine Einheimischen", sagt sie, "man muss diese Leute entwaffnen, sonst werden sie noch weitergehen".

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