Ukraine und Russland:Entzweit in der Erinnerung

Russische Soldaten beim Angriff in Stalingrad, 1942 | Russian soldiers during the attack in Stalingrad, 1942

Soldaten der Roten Armee bei Straßenkämpfen in Stalingrad (heute Wolgograd) im Herbst 1942

(Foto: Scherl)

Im Krieg gegen die Nazis hat Nina Tichonowa für die Sowjetunion gekämpft. Nun fragt sich die Ukrainerin, wieso der Blutzoll ihres Landes am diesjährigen "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland in Moskau nichts mehr gilt. Nicht nur wegen Putins Annexion der Krim hat dieser Jahrestag einen anderen Charakter als alle anderen zuvor.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Damit ist er zu weit gegangen, das hätte er nicht tun dürfen. Vor einem Jahr, als noch keine Rede war von der tiefen ukrainisch-russischen Entfremdung, sagte Wladimir Putin, ausgerechnet in einer ukrainischen Nachrichtensendung: "Wir hätten den Krieg auch ohne die Ukraine gewonnen. Wir sind ein Siegervolk." Wir - damit meinte der russische Präsident die Russen.

Seitdem sind die ukrainischen Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, dessen Ende in der ehemaligen Sowjetunion am 9. Mai als Tag des Sieges über Nazi-Deutschland gefeiert wird, nicht mehr gut auf Putin zu sprechen. Dass dieser die Leistung, den Blutzoll, die Opfer der ukrainischen Bevölkerung in diesem an Opfern so reichen Krieg herabwürdigte, das vergibt man ihm nicht. Auch Ninel Jakowlewna Tichonowa nicht, die sich einige Stunden vor Beginn des 69. Jahrestags im Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Kiew schon mal vorab feiern lässt.

Die Übergangsregierung hatte, ungeachtet der leeren Staatskassen, den Veteranen in diesem Jahr eine Sonderzahlung zukommen lassen. Nun ist der stellvertretende Premierminister zur kleinen Museumsfeier vor der großen Staatsfeier gekommen und schüttelt die Hände dankbarer alter Menschen. Ein fetter Schlagersänger im schillernd-grauen Sakko singt Lieder aus alten Zeiten, einige Kinder tanzen dazu in historisch nicht ganz präzisen Uniformen. Im Publikum sitzt Ninel Tichonowa, geboren 1927, die sich lieber Nina nennt.

Ihr Name steht für Anpassung

Denn ihr ungewöhnlicher Vorname ist etwas aus der Zeit gefallen: Spiegelverkehrt gelesen lautet er "Lenin" - eine kleine, modische Spielerei ihrer Eltern in Zeiten, in denen es üblich war, Kindern die Namen berühmter Sowjetführer zu geben. Sie hätten, sagt Nina, damit auch besondere Anpassung demonstrieren wollen. Denn Nina Tichonowas Großmutter war eine Schwester von Zar Alexander III. Das kam damals nicht gut an, als der Klassenkampf großgeschrieben wurde.

Adelige Großmutter hin oder her, im Jahr 2014 plagen die ukrainische Veteranin andere Sorgen. Ihr Sohn, der Chef-Psychiater bei der ukrainischen Flotte auf der Krim war, ist dort geblieben. Nun drangsalieren ihn die Russen; er müsse einen russischen Pass beantragen, sonst gebe es Ärger. Die muntere Seniorin nutzt im Kriegsmuseum die Gelegenheit und bittet den Vize-Premier um Hilfe. Er werde es versuchen, verspricht der. Viel Hoffnung hat er nicht. Die Krim liegt nicht mehr im Einflussbereich ukrainischer Politiker. Vielmehr hat Wladimir Putin angekündigt, er werde seine alljährliche Truppenparade dort abhalten. Nicht nur in Kiew empfindet man das als Provokation.

Und so hat dieser Jahrestag einen anderen Charakter als alle anderen in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Das liegt zum einen daran, dass Kiew mögliche "Störungen" durch prorussische Kräfte fürchtet und vor dem Feiertag an den Einfallstraßen der Hauptstadt vorsorglich Barrikaden errichten ließ. Und es liegt - weit grundsätzlicher - daran, dass sich die unabhängige Ukraine von Russland militärisch bedroht fühlt, dass selbst ein Krieg zwischen den einstigen Bruderstaaten möglich erscheint. Deswegen hat eine neue, nationalere Deutung des einst gemeinsam gefeierten militärischen Triumphs in Kiew Konjunktur.

"Dann wäre ich dran gewesen"

"Sieg und Erinnerung sind die Grundlagen der Einheit der Ukraine" heißt der Slogan zur Feier diesmal. Die wissenschaftliche Leiterin des Museums, Ljubow Ljesowa, betont, es gehe nicht um Triumph, sondern auch um Trauer an diesem Tag, an dem die Ukrainer ihren Anteil am Sieg, aber eben auch ihre Toten zu beklagen hätten. Zuletzt waren sogar Gerüchte aufgekommen, man wolle nicht mehr am 9. Mai, sondern schon am 8. Mai das Kriegsende feiern, wie in Westeuropa üblich. Soweit ist es nun nicht gekommen. Nina Tichonowa aber, die einst für die Befreiung des belagerten Leningrad und später im Baltikum kämpfte, wird an diesem Freitag nur an einer Veranstaltung vor dem Museum und an einer Gedenkfeier im Park des Ruhmes teilnehmen.

Keine Parade, kein Marsch. Dabei ist die alte Dame noch sehr gut zu Fuß. Die Arthritis plagt sie, aber weil sie eitel ist, stützt sie sich beim Gehen nur auf einen schneeweißen Regenschirm, der nicht aussieht wie ein Stock für alte Frauen. Die Haare sind frisch gefärbt in flammendem Rot, ihr Lippenstift trägt die passende Farbe, und auch sonst ist Nina Tichonowa das blühende Leben. Ihr Gedächtnis funktioniert hervorragend. Sie weiß noch genau, dass sie in der 8. Armee, 240. Division, 119. Kompanie gedient hat, nur das Bataillon will ihr nicht mehr einfallen. Sie weiß noch, dass sie als 16-Jährige unbedingt an die Front wollte und erst in einem Zug für verletzte Soldaten als Krankenhelferin diente.

Dann wurde sie 1943 zur Marine geschickt, direkt an die Front, vor das eingeschlossene Leningrad. Knapp zweieinhalb Jahre dauerte die Blockade der Stadt, mehr als eine Million Menschen verhungerte. "Ich war klein, hatte Schuhgröße 33, wog 45 Kilo", erinnert sich Nina, "und zu schwach, um ein Maschinengewehr zu halten." Die anderen Soldaten hätten ihr immer ihre Socken geschenkt, um die zu großen Stiefel auszustopfen. Nach dem Ende der Belagerung, auf das kaum einer der Soldaten der Roten Armee noch zu hoffen gewagt hatte, wurde sie ins Baltikum versetzt, nach Tallinn. Dort habe sie, mitten im Krieg, das Museum für Peter den Großen besucht und sich zu der umgestürzten Statue des Zaren heruntergebeugt, als hinter ihr jemand rief: "Hände hoch!"

Im Krieg erschoss sie einen Menschen

Sie sagt das auf deutsch, und dann beginnt die alte Dame zu weinen. Denn vor lauter Angst, erzählt sie, habe sie nach ihrer Pistole gegriffen und von unten, in gebückter Stellung, durch die Beine hindurch den Deutschen erschossen. "Dann habe ich gesehen, dass er kaum älter war als ich, 18 Jahre alt. Er ist der einzige Mensch, den ich in diesem Krieg erschossen habe." Nun weint sie bitterlich, 70 Jahre danach, denn sie schämt sich: "Ich wollte seine Papiere mitnehmen, seinen Eltern schreiben, aber ich hatte Angst, dass der NKWD, der Geheimdienst, sie bei mir findet. Dann wäre ich dran gewesen."

Kurz darauf war sie dann doch noch dran. Denn Nina Tichonowa tat, was nicht vorgesehen war für eine Soldatin: Sie schlug einem Vorgesetzten bei der Marine, der sie vergewaltigen wollte, ein schweres Tintenfass auf den Kopf. Die Folge: Haft, drohende Todesstrafe. Zu dem Prozess in Kriegszeiten kam es jedoch nie, weil der Vorgesetzte auf einem Schiff bei einem deutschen Angriff umkam. Nina Tichonowa kam frei, wurde aber erst 1985 unter Michail Gorbatschow rehabilitiert. Einen Teil der Orden, die sie heute mit Stolz trägt, bekam sie erst nach Beginn der Perestrojka.

Am 9. Mai 1945 forderte ein Mann Nina zum Tanz auf. Ein halbes Jahr später heirateten sie

Sechs Jahre später wurde die ukrainische Sowjetrepublik unabhängig. Seither entwickelt sich dort ein eigenes Geschichts- und Selbstverständnis. Die Ukraine war - neben dem Baltikum und Weißrussland - einer der Hauptschauplätze des Kriegs. Millionen Menschen kamen während der Besatzung durch die Nazis um, mehr als eine Million Ukrainer wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert. 1225 Tage und Nächte wurde auf dem Territorium der ukrainischen Sowjetrepublik gekämpft, wo Hitler seinen Traum vom Lebensraum für die Deutschen umsetzen wollte.

Für Nina Jakowlewna Tichonowa hatte der Krieg trotz allem ein Gutes, und das klingt so wunderbar, als sei es eine Geschichte aus einem sowjetischen Propagandafilm: Am 9. Mai 1945, als das Schlachten ein Ende hatte, kaufte sich die junge Nina ein paar Schuhe, "so schön und winzig, wie sie die Japanerinnen trugen", und ein buntes Kleid. "Meine Kameraden erkannten mich gar nicht", sagt sie, und wieder hat sie Tränen in den Augen, "ich sah aus wie eine Prinzessin." Das fand wohl auch der Mann, der sie an jenem Abend zum Tanz aufforderte - einem Tanz aus Anlass des Sieges über Nazi-Deutschland.

Jewgenij und sie heirateten ein halbes Jahr später. Nun ist er seit 16 Jahren tot. Und sie geht, wie in all den Jahren seither, allein zur Siegesfeier.

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