Kriegsfolgen in der Ukraine:"Und trotzdem entfaltet sich die Tragödie weiter"

Kriegsfolgen in der Ukraine: Flucht ins Nachbarland: Von der polnischen Grenze aus bringen Busse geflohene Ukrainer in Polens große Städte.

Flucht ins Nachbarland: Von der polnischen Grenze aus bringen Busse geflohene Ukrainer in Polens große Städte.

(Foto: Enrico Mattia Del Punta/Imago)

Bald ein Jahr nach Russlands Überfall auf die Ukraine erklären die UN: Acht Millionen Ukrainer sind in Nachbarländer geflohen, mehr als fünf Millionen im eigenen Land vertrieben. Doch ein Ende des Kriegs sei nicht in Sicht.

Von Nicolas Freund

Zu Beginn des Krieges in der Ukraine gab es immer wieder Momente, in denen das ganze Land vor Anspannung die Luft anzuhalten schien. Gerade ist wieder ein solcher Moment. Noch immer wird heftig um das stark befestigte Bachmut im Donbass gekämpft. Russische Truppen versuchen weiter, die Stadt einzukesseln. Inzwischen sollen auch die beiden Straßen, über die ukrainische Streitkräfte Nachschub an die Front bringen, direkt unter russischem Beschuss stehen. Die Versorgung scheint bisher aber nicht ernsthaft beeinträchtigt zu sein, und auch ein Rückzug der ukrainischen Truppen steht wohl nicht unmittelbar bevor. Das schrieb zumindest ein Sprecher der Söldnergruppe "Wagner" auf Telegram: "Die Streitkräfte ziehen sich nirgendwohin zurück", heißt es dort über die ukrainische Seite.

Allerdings hatte sich die ukrainische Armee auch schon zuvor aus belagerten Städten zurückgezogen und nicht bis zum bitteren Ende gekämpft, wenn die Lage aussichtslos geworden war. Es ist davon auszugehen, dass die ihre Truppen gegebenenfalls auf die Stellungen um die ebenfalls stark befestigte Stadt Kramatorsk zurückfallen würden, um zu große eigene Verluste zu vermeiden. Jeder Rückzug dieser Art ist aber nicht nur eine militärische, sondern auch eine schwierige politische Entscheidung. Denn die Führung in Kiew muss das Leben der Soldaten gegen die Abgabe von Territorium an die russischen Invasoren abwägen. Dazu kommt im Fall von Bachmut der große Einsatz, den beide Seiten im Kampf um die Stadt schon gezeigt haben und der eine Niederlage nun umso schmerzhafter machen würde.

Kriegsfolgen in der Ukraine: Trotz der geringen strategischen Bedeutung der Stadt wird um Bachmut weiter gekämpft.

Trotz der geringen strategischen Bedeutung der Stadt wird um Bachmut weiter gekämpft.

(Foto: Marko Djurica/Reuters)

Die Kräfte, die beide Seiten in diesen Kampf werfen, stehen dabei längst in keinem Verhältnis mehr zu der strategischen Bedeutung der Stadt. Moskau hält aber trotz sehr hoher Verluste weiter an seinem Kriegsziel fest, die gesamte Oblast Donezk einzunehmen. Für die Führung im Kreml ist es wohl auch wichtig, zum ersten Jahrestag der Invasion am 24. Februar einen militärischen Erfolg vorzeigen zu können. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu behauptete am Dienstag, man mache in Bachmut Fortschritte.

Wann kommt es zur erwarteten russischen Offensive?

Laut Serhij Hajdaj, dem ukrainischen Gouverneur der fast vollständig von Russland besetzten Oblast Luhansk, zieht der Aggressor Truppen für die schon länger erwartete Offensive zusammen: "Wir sehen, dass immer mehr Reserven in unsere Richtung verlegt werden, wir sehen, dass mehr Ausrüstung herbeigeschafft wird", sagte Hajdaj. Der ukrainische Geheimdienst behauptet sogar, Russland plane im Frühjahr und im Sommer bis zu einer halben Million Soldaten zu mobilisieren.

Auch das Institute for the Study of War warnte vor einem russischen Großangriff um den 24. Februar oder schon vorher. Womöglich wolle die russische Führung Waffenlieferungen aus dem Westen zuvorkommen. Entwarnung gab dagegen der britische Geheimdienst: In seinem täglichen Briefing vom Dienstag wurde zwar auch mit einem russischen Angriff in der Region Donezk gerechnet, allerdings bezweifelten die Briten, dass die russische Armee derzeit in der Lage ist, den Kriegsverlauf zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Kriegsfolgen in der Ukraine: Der UN-Sonderbeauftragte Martin Griffiths koordiniert die Nothilfe für die Ukraine - und vermutet eine hohe Dunkelziffer hinter den offiziellen Opferzahlen.

Der UN-Sonderbeauftragte Martin Griffiths koordiniert die Nothilfe für die Ukraine - und vermutet eine hohe Dunkelziffer hinter den offiziellen Opferzahlen.

(Foto: Lev Radin/Imago)

Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths machte indessen vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen klar, was die seit fast einem Jahr tobenden Kämpfe für die ukrainische Bevölkerung bedeuten: "Wir haben gewarnt vor der toxischen Mischung aus Tod, Zerstörung, Vertreibung und Verlust, die dieser Krieg verursacht hat. Wir haben über das psychologische Trauma gesprochen, das er hinterlassen hat. Wir haben verurteilt, welchen tödlichen Preis er von der Zivilbevölkerung fordert. Und trotzdem entfaltet sich die Tragödie weiter, ohne ein Ende in Sicht."

7000 getötete ukrainische Zivilisten - nur ein Teil der Wahrheit

17,6 Millionen Menschen und damit fast 40 Prozent der Bevölkerung seien derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Insgesamt mehr als 13 Millionen Menschen seien vor den Kampfhandlungen und den ständigen russischen Angriffen auf Städte und die zivile Infrastruktur geflohen. Acht Millionen Ukrainer hätten sich ins benachbarte Ausland gerettet und 5,3 Millionen sollen Binnenflüchtlinge sein, die in anderen Landesteilen oft in Sammelunterkünften Zuflucht gefunden hätten.

Griffiths nannte außerdem die Zahl von bisher 7000 getöteten Zivilisten und fügte hinzu: Das sei nur die von der UN bestätigte Zahl, die tatsächliche Zahl der Opfer sei mit Sicherheit höher. Die Vereinten Nationen nehmen in ihre Statistiken nur Opferzahlen auf, die einwandfrei von Zeugen oder eigenen Untersuchungen bestätigt werden konnten.

Der UN-Sonderbeauftragte warnte außerdem vor Minen sowie anderen Überresten des Krieges und forderte mehr Hilfe für die Bevölkerung. Beide Kriegsparteien rief er zur Schonung von Zivilisten und zivilen Einrichtungen auf. Auch wenn dieser aktuelle Moment der Anspannung sich irgendwann wieder gelöst haben sollte: Die Folgen dieses Krieges werden die Menschen in der Ukraine noch für viele Jahre verfolgen.

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