In einem der massivsten Angriffe seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 hat Russland die Stromversorgung und andere Infrastruktur des Landes bombardiert. Der ukrainischen Luftwaffe zufolge feuerten die russische Luftwaffe und Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte fast 100 bombenbestückte Drohnen und 91 Raketen und Marschflugkörper auf 188 Ziele im gesamten Land ab. Zwölf Raketen trafen offenbar ihre Ziele, von den 97 Drohnen schoss die ukrainische Flugabwehr nach offizieller Mitteilung nur 35 ab. Von vielen Drohnen fehle jede Spur – ob sie Ziele verfehlten oder trafen, steht nicht fest. Der ukrainischen Luftwaffe zufolge wurden zwölf Energieziele bevorzugt angegriffen. Explosionen waren in fast allen großen Städten der Ukraine zu hören.
Dem ukrainischen Energieminister Herman Haluschtschenko zufolge war es bereits der elfte massive russische Angriff auf die Stromversorgung allein in diesem Jahr. Militärgouverneure etwa in Kiew, Iwano-Frankiwsk, Wolyn und Sumy sprachen von Schäden an der Infrastruktur. Die ukrainische Stromverteilung Ukrenergo schaltete den Strom an vielen Orten des Landes ab. Auch die an der Stromversorgung hängende Wasserversorgung wurde teilweise unterbrochen.
Mit den massiven Angriffen setzt Russlands Diktator Wladimir Putin die Ukraine vor den anstehenden harten Wintermonaten, in denen die Temperaturen oft unter minus 20 Grad sinken, zusätzlich unter Druck. In der russischen Region Kursk haben die ukrainischen Kräfte seit Beginn ihrer Gegenoffensive auf russisches Gebiet im August 2024 mittlerweile wieder bis zur Hälfte der zunächst besetzten Gebiete verloren; Präsident Wolodimir Selenskij und sein oberster General Oleksandr Syrskyj hatten diese als Gegenpfand für kommende Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen mit dem Kreml sichern wollten.
In der Ostukraine haben die russischen Truppen Hunderte Quadratkilometer erobert
Gleichzeitig steht die Ukraine vor allem im Osten des Landes unter Druck, zeigen die Berichte des Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington oder die Frontverlaufskarten des ukrainischen Infodienstes Deep State. In der Ostukraine haben die russischen Truppen seit dem Sommer Hunderte Quadratkilometer erobert. Die wichtige Stadt Pokrowsk könnte bald fallen, auch die Garnisonsstädte Kramatorsk und Slowjansk sind nur wenige Kilometer von der Front entfernt. Russische Einheiten rücken etwa auch auf die Stadt Kupjansk vor. Und im Süden des Landes fürchten die Ukrainer nach russischen Verstärkungen eine Offensive auf die zentrale Stadt Saporischschja.
Zwar setzen die Ukrainer seit einigen Tagen nach einer Freigabe von US-Präsident Joe Biden und dem britischen Regierungschef offenbar erfolgreich bis zu 200 Kilometer reichende Raketen vom Typ ATACMS oder Storm Shadow gegen russische Munitionsdepots oder andere Ziele auf russischem Territorium ein, um die Versorgung der russischen Armee zu erschweren. Doch Russland feuerte dann – offenkundig auch als Warnung an die westlichen Alliierten Kiews – am 21. November zum ersten Mal die offenbar neuentwickelte Oreschkin-Rakete auf die Ukraine ab; am Donnerstag drohte Putin mit deren Einsatz gegen Kiew und verglich die Rakete mit dem Einsatz von Atomwaffen.
Bevor der gewählte US-Präsident Donald Trump am 20. Januar vereidigt wird, versucht die US-Administration, noch möglichst viele Waffen und Munition an Kiew zu liefern. Das drängendste ukrainische Problem ist indes der fatale Mangel an frisch ausgebildeten Soldaten, die die gefallenen, verletzten oder großteils seit 2022 pausenlos an der Front kämpfenden Soldaten ablösen könnten. Weil es in der Ukraine doppelt so viele Vierzigjährige wie Zwanzigjährige gibt, verweigert Präsident Selenskij bis heute die Einberufung von Ukrainern unter 25 Jahren; bis vor Kurzem lag das Mindestalter für den Fronteinsatz gar bei 27 Jahren. Nach London dringt nun auch Washington massiv darauf, das Alter für Einberufungen auf 18 zu senken, so die Associated Press unter Berufung auf Präsidialmitarbeiter.
In der Ukraine sind dem britischen Economist zufolge bis zu 100 000 Soldaten gefallen. Die Süddeutsche Zeitung kam nach ukrainischen Angaben und Analysen von Militärmedizinern schon im Februar 2024 zu dem Schluss, es könnten schon damals weit mehr als 100 000 ukrainische Soldaten gefallen sein.
Die Befragten wünschen sich die Europäer als Unterhändler, nicht die USA
Die zunehmend kritische militärische Lage könnte Kiew bald zwingen, auf Friedens- oder Waffenstillstandsgespräche einzugehen. Ratgeber des kommenden US-Präsidenten sollen Trump vorgeschlagen haben, Kiew müsse Verhandlungen und den faktischen Verzicht auf ein Fünftel seines besetzten Staatsgebiets akzeptieren, um nach Trumps Amtsantritt überhaupt weitere Waffen zu bekommen. Einer im Oktober abgeschlossenen Umfrage des Gallup-Institutes zufolge sind 52 Prozent der Ukrainer für ein schnelles Ende des Krieges durch Verhandlungen.
Dies ist das erste Mal seit Beginn des Überfalls, dass sich eine Mehrheit für Verhandlungen ausspricht – ohne freilich eine Vorstellung zu haben, wie genau diese aussehen sollen und was erreicht werden soll. Interessanterweise wünschen sich die von Gallup Befragten in erster Linie nicht die USA, sondern die Europäer als Unterhändler mit Moskau. Dies könnte den Hintergrund haben, dass viele Ukrainer fürchten, eine US-Administration unter Präsident Trump würde Putin zu weit entgegenkommen. Von den 52 Prozent, die für schnelle Verhandlungen sind, ist wiederum knapp die Hälfte für territoriale Zugeständnisse, 38 Prozent sind dagegen. Und 38 Prozent aller Befragten fordern weiter Kampf bis zum Sieg.
Indes gibt es bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass die russische Führung an irgendwelchen Verhandlungen interessiert ist. Sie hat oft – auch in den vergangenen Tagen – wiederholt bekräftigt, dass Russlands Diktator Wladimir Putin und die ihn umgebende Führung sich nicht mit bereits eroberten Gebieten zufriedengeben würden, sondern weitere ukrainische Territorien – etwa die noch von Kiew kontrollierten Teile der Regionen Donezk oder Saporischschja mit der Großstadt gleichen Namens – will. Auch Odessa und Kiew wurden mehrmals als eigentlich zu Russland gehörende, zurückzuerobernde Ziele genannt.
Russlands Auslandsspionagechef Sergej Naryschkin etwa, eine der einflussreichsten Figuren im Umfeld des Diktators, stellte am 26. November fest, Russland verweigere jedwedes Einfrieren der aktuellen Frontlinie oder die Schaffung einer demilitarisierten Pufferzone als Voraussetzung für einen möglichen Waffenstillstand oder gar Friedensschluss. Das Washingtoner Institut für Kriegsstudien (ISW) nimmt wie auch Kiewer Militärs an, dass Moskaus Truppen nach dem Vordringen im Osten zur Eroberung der gesamten Region Donezk als Nächstes vordringlich im Südosten der Region Dnipropetrowsk – mit der Großstadt Dnipro als Zentrum – eine Offensive eröffnen werden. Allein seit dem 1. November habe Moskau weitere 574 Quadratkilometer erobert, so das ISW im Bericht vom 26. November.