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Ukraine:Warum Neuwahlen für die Ukraine eine Katastrophe wären

  • Vor drei Wochen entging der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk knapp einem Misstrauensvotum.
  • Daran zerbrach die regierende Koalition, seither ist das Parlament paralysiert.
  • Nun sind verschiedene Optionen im Gespräch: Ein "freiwilliger" Rückzug des Premiers oder vorgezogene Neuwahlen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Drei Wochen ist es her, dass der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk nur knapp einem Misstrauensvotum entkam, weil einige Mitglieder der Regierungskoalition überraschend für ihren Premier stimmten, die sich vorher noch über die miserable Bilanz des Kabinetts empört hatten. Die Wogen schlugen hoch, die Koalition zerbrach, bis heute ist es nicht gelungen, andere Partner ins Boot zu holen. Das Parlament ist paralysiert, vorgezogene Neuwahlen stehen im Raum wie der Elefant zwischen den Scherben im Porzellanladen.

Aber auf dem politischen Parkett der Werchowna Rada sind die Dinge nur selten so, wie sie zu sein scheinen - und so gibt es bis heute diverse Verschwörungstheorien darüber, wer mit wem paktierte, um den ungeliebten Premier im Amt zu halten, dessen Abschied kurz zuvor sogar der Präsident selbst gefordert hatte.

Auf den Gängen der Rada erzählt man sich, Präsident Petro Poroschenko sei nach dem gescheiterten Misstrauensvotum mit der Bibel in seine Fraktion, den Block Poroschenko, geeilt und bereit gewesen, auf die Heilige Schrift zu schwören, dass er keine geheimen Absprachen getroffen habe, um Jazenjuk zu retten. Niemand habe den Schwur verlangt, berichten diese bösen Stimmen, weil kein Abgeordneter den Präsidenten zum Meineid verleiten wollte.

Nun also wird heftig gerungen und geredet in Kiew, und wohl keiner weiß so genau, wie es weitergehen soll. Die Frist für den Premier, innerhalb der er eine neue Mehrheit zimmern muss, läuft ab; der Chef der Radikalen Partei, Oleg Ljaschko, der als Stimmenlieferant gehandelt worden war, aber dafür zwei Minister- und einen Parlamentssprecherposten gefordert haben soll, läuft durch Kiew und klagt, seit einer Woche habe niemand mehr mit ihm gesprochen.

Was daran liegen mag, dass andere Optionen in den Vordergrund rücken: zum Beispiel der "freiwillige" Rückzug des Premiers und seine Ersetzung durch einen reformorientierten Kandidaten wie den Außenminister oder die Finanzministerin oder durch einen Vertrauten des Präsidenten. Offenbar wird auf Jazenjuk massiver Druck ausgeübt, das Handtuch zu werfen, denn ein neuer Misstrauensantrag wäre verfassungsrechtlich erst im Herbst möglich.

Doch auch vorgezogene Neuwahlen scheinen nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Jedenfalls berichtet die Ukrainskaja Prawda, dass Europäer und Amerikaner, die maßgeblichen Einfluss auf die Regierungsarbeit in Kiew haben, sich langsam mit der Möglichkeit abfänden, weil die Desintegrationsprozesse in Kiew so unübersehbar seien.

Allerdings wären Neuwahlen aus zwei Gründen eine ziemliche Katastrophe: Eben weil es derzeit keine Mehrheit für die früher aus vier, seit der Februar-Krise nur noch aus zwei Koalitionsparteien bestehende Regierung gibt, wäre es fraglich, ob das Parlament rechtzeitig Reformen zustande bekäme, die echte demokratische Wahlen ermöglichen, den bisher praktizierten Stimmenkauf erschweren und den Einfluss einzelner Oligarchen minimieren würden.

Ein Parteienfinanzierungsgesetz ist zwar im Herbst beschlossen worden, aber es hapert, wie üblich, an der Umsetzung - wie auch in anderen Bereichen: So fordern Experten eine Beschränkung von Wahlwerbung, die von Oligarchen finanziert und in privaten Fernsehsendern ausgestrahlt wird, die Oligarchen gehören.

Angezeigt wären auch eine Änderung des Wahlrechts und eine Öffnung der Parteilisten. Aber just am Tag des gescheiterten Misstrauensvotums, am 16. Februar, hat das Parlament morgens noch schnell das genaue Gegenteil beschlossen: Künftig sollen Parteien Kandidaten, die vorher auf eine Parteiliste gewählt wurden, auch nach einer Wahl von ihren Listen streichen können - eine absurd undemokratische Regelung.

Der zweite Grund, warum Brüssel und Washington Neuwahlen bislang als das schlimmstmögliche Szenario werten, ist die Lage im Donbass und das drohende Scheitern des Minsk-Prozesses. Ungeachtet des formal vereinbarten Waffenstillstandes zwischen Separatisten und ukrainischer Armee haben sich die Kämpfe in den vergangenen Wochen intensiviert. Beide Kriegsparteien ignorieren praktisch alle Verabredungen. Und ob in diesem Jahr die geplanten Wahlen in den "Autonomen Volksrepubliken" stattfinden können, die im Minsk-Prozess nach der Verabschiedung des Dezentralisierungsgesetzes durch die Rada stattfinden sollen, steht in den Sternen.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier zeigte sich nach dem letzten Treffen im Normandie-Format am vergangenen Mittwoch so frustriert wie lange nicht. "Ich befürchte, es wird nicht mit dem genügenden Ernst gesehen, wie die Lage in der Ostukraine wirklich ist und dass sie jederzeit wieder eskalieren kann", sagte Steinmeier. Es habe zu den offenen Fragen schon mehr als 30 Sitzungen auf Arbeitsebene gegeben - ohne Erfolg. Die Zeit für Lippenbekenntnisse sei vorbei.

Zwar war in den vergangenen Wochen über einen Wahltermin im Frühsommer spekuliert worden, aber so recht mag niemand daran glauben. Denn erstens gibt es für das Dezentralisierungsgesetz, mit dem der Sonderstatus für den Donbass festgezurrt würde, in der Rada in der zweiten, noch ausstehenden Lesung gar keine Mehrheit.

Zweitens bleibt Kiew dabei: Wahlen in den Separatistengebieten nicht ohne Abzug russischer Soldaten und Waffen, nicht ohne Zulassung ukrainischer Medien und Parteien, nicht ohne Kontrollen an der Grenze zu Russland durch etwa die OSZE.

Die Reaktion der Separatisten ist das übliche "Ja, aber": Der Donezker Republik-Chef Alexander Sachartschenko sagt zwar, man sei theoretisch zu Gesprächen über Wahlen bereit, aber: "Wir wollen nicht mehr in der Ukraine leben." Parteien und Medien, die Kiewer Positionen vertreten, kämen nicht infrage. Die ukrainische Regierung wiederum beruft sich darauf, dass auch die EU und die USA ja wohl kaum Wahlen wollten, die quasi nach russischem Recht und Selbstverständnis abliefen.

US-Botschafter Geoffrey Pyatt, der sich oft und kraftvoll in die ukrainische Politik einmischt, macht für einen Erfolg oder Misserfolg der Minsker Verhandlungen Moskau verantwortlich. "Russland hat im Rahmen des Minsker Abkommens klare Verpflichtungen übernommen: die reale und dauerhafte Einstellung des Feuers, die Freilassung aller Kriegsgefangenen, den Stopp der Verschickung russischer Kräfte und Waffen auf das besetzte Territorium." Natürlich habe auch Kiew Verpflichtungen. Aber die unmittelbarste Voraussetzung für dauerhaften Frieden sei die Waffenruhe - "und wir fordern Russland auf, auf die Separatisten einzuwirken, die von Moskau unterstützt und versorgt werden, sodass diese die Kriegshandlungen beenden."

Danach aber sieht es nicht aus, im Gegenteil. Die Beobachter der OSZE-Mission berichten nicht nur von Gefechten und schweren Waffen, die nun wieder an der Front auftauchen. Sondern auch davon, dass wieder verstärkt militärischer Nachschub und militärisches Personal auf dem Weg von der russischen Grenze in die besetzten Gebiete gesichtet würden. Der Verdacht wird zur Gewissheit: Weder Kiew noch Moskau sind an einer Umsetzung von Minsk, wie es auf dem Papier steht, interessiert.

Die Lage der Menschen im Donbass, der in seiner Versorgung und Finanzierung von Moskau abhängig ist, droht dabei in Vergessenheit zu geraten. Unter den vielleicht drei Millionen Bürgern, die noch in den "Republiken " lebten, herrsche ein "deprimierendes Gefühl der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Isolation", sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, in Genf bei der Vorlage des neuesten Ukraine-Berichts. Die Menschen lebten in einem rechtsfreien Raum, die Verwaltung funktioniere nicht, Wasser und Nahrung seien teuer und schwer zu bekommen. Trotz des Waffenstillstands sind zwischen November 2015 und Februar dieses Jahres 80 Menschen durch Beschuss und Landminen getötet oder verletzt worden. Insgesamt wurden 21 000 verwundet, 9160 Menschen sind ums Leben gekommen.

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SZ vom 08.03.2016/jly
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