Kommt man von Osten nach Deutschland, ist die Viadrina die erste Universität hinter der Grenze. Die Hochschule in Frankfurt an der Oder ist aber nicht nur geografisch nah dran an der Ukraine. Vier Partner-Unis hat sie dort, zwei in Kiew, eine je in Lwiw und Charkiw; in den vergangenen sechs Jahren förderte das Projekt "Ukraine Calling" Dialog und Wissensaustausch. So ist es nicht erstaunlich, dass sich viele junge Ukrainer nach Kriegsbeginn an die Europa-Universität wandten, um dort Schutz zu suchen - und ihr Studium in Jura, Kultur- oder Wirtschaftswissenschaften fortzusetzen.
Mehr als 90 Geflüchtete sind bisher an der mit 5500 Studierenden vergleichsweise kleinen Universität untergekommen, und auch weiterhin gibt es Anfragen. "Wir versuchen, alles möglich zu machen", sagt Stefan Henkel, der die Ukrainehilfe koordiniert. Wo das nicht geht, etwa weil die Viadrina den gewünschten Studiengang nicht anbietet, hilft das Internationale Büro der Uni mit Ratschlägen und Kontakten weiter. Wer einen Platz bekommt, wird nicht nur vom Bahnhof abgeholt, sondern auch danach eng betreut. Studentische Hilfskräfte helfen im Unialltag, bei Behördengängen und der Wohnungssuche.
Bis zu 100 000 junge Menschen aus der Ukraine werden an die deutschen Hochschulen kommen, um dort ein Studium zu beginnen oder fortzusetzen, prognostizierte der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) im März. 100 000 zusätzlich zu der halben Million insgesamt, die jedes Jahr regulär ein Studium beginnt. Das wäre nach vier fordernden Corona-Semestern eine weitere große Herausforderung für die Hochschulen, Engpässe beim Lehrpersonal und in der Verwaltung sind zu erwarten. Gerade in zulassungsbeschränkten Fächern wie Medizin und Psychologie ist das Interesse groß.
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Ukrainische Geflüchtete müssen oft erstmal Kitaplätze finden und Sprachkurse besuchen, bevor sie arbeiten können. Deshalb steigen die Arbeitslosenzahlen etwas an. Insgesamt trotzt der Arbeitsmarkt allen Krisen.
Wie viele Geflüchtete tatsächlich ein Studium aufnehmen oder fortsetzen werden, ist allerdings schwer zu sagen. Bisher wird nicht zentral erfasst, wie viele Studierende aus der Ukraine bereits deutsche Hochschulen besuchen; schon gar nicht, wie viele sich gerade bewerben. Weil das Sommersemester schon wenige Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine begonnen hat, ist die größere Zahl von Studierenden im Herbst zu erwarten. Die Bereitschaft vieler Verantwortlicher, tatkräftig zu helfen, ist aber offenkundig. Hochschulen, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie DAAD arbeiten schnell und unbürokratisch zusammen, findet Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK).
Was Geflüchtete, die studieren möchten, am dringendsten brauchen, sind leicht zugängliche Informationen und finanzielle Unterstützung. Beides wurde rasch angegangen. Der DAAD informiert seit März auf der Webseite "Nationale Akademische Kontaktstelle Ukraine" über den Hochschulzugang. Wer mindestens ein Jahr in der Ukraine studiert hat und die für den entsprechenden Studiengang notwendigen Sprachkenntnisse nachweisen kann, darf in der Regel eine deutsche Hochschule besuchen. Wer hingegen nach dem Abitur oder im ersten Studienjahr geflohen ist, muss einen Vorbereitungskurs an einem Studienkolleg besuchen und eine Aufnahmeprüfung bestehen. Viele der Geflüchteten sprechen sehr gut Englisch, sogar Deutsch war oft Schulfach, hat HRK-Präsident Alt beobachtet. "Ein Teil wird wohl schnell regulär studieren können, auch auf Deutsch." Bisher werden viele Geflüchtete auch ohne Hochschulzugangsberechtigung als Gasthörer zugelassen. Sie können an Veranstaltungen teilnehmen, aber keine Prüfungen ablegen.
Ein weiterer wichtiger Schritt: Anfang Mai entschied die Bundesregierung, dass regulär immatrikulierte Studierende mit ukrainischem Pass ab 1. Juni Bafög beantragen und damit deutlich mehr Unterstützung bekommen als über das Asylbewerberleistungsgesetz. Die DAAD-Seite informiert zudem über diverse Stipendienmöglichkeiten. Viele Hochschulen haben Geld gesammelt und eigene Hilfsfonds eingerichtet. Damit Studierende nicht mühevoll bei einzelnen Unis anfragen müssen, bemüht sich das Netzwerk "Support UAstudents", Geflüchtete mit den Hochschulen zusammenzubringen, auch mit kleineren, weniger bekannten. Ukrainer können sich mit Studiengang und Wunschregion registrieren und werden an Häuser mit entsprechenden Kapazitäten vermittelt.
"Ein Ausweg, um überhaupt noch im Studium voranzukommen."
Doch die Hochschulen stehen nicht nur vor organisatorischen Herausforderungen. "Uns ist bewusst, dass sich diese Menschen nicht für ein Studium im Ausland entschieden haben und sich auch nicht darauf vorbereiten konnten", sagt Tatiana Zimenkova, Vizepräsidentin der Hochschule Rhein-Waal, wo drei Viertel der Studiengänge - und damit außergewöhnlich viele - auf Englisch gelehrt werden. "Sie sehen es als Ausweg, um überhaupt noch im Studium voranzukommen." Auch wenn Hochschulen Erfahrungen mit Austauschstudierenden haben - in diesem Fall müssten sie besonders darauf achten, Neuzugängen neben Sprachkenntnissen auch Unterschiede in der akademischen Kultur - die Erwartungen, Herausforderungen und auch Freiräume, die das Studium in Deutschland mit sich bringt - zu erklären, so Zimenkova. Und ihnen, wenn möglich, auch psychologische Betreuung anzubieten.
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Geflüchtete ins deutsche Hochschulsystem zu integrieren, ist aber nur eine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Mindestens ebenso sinnvoll ist es, wenn sie ihr bisheriges Studium an einer ukrainischen Uni digital fortsetzen können. Zum einen aus psychologischen Gründen: "Viele junge Leute tun sich schwer damit, über die nächsten Wochen hinaus zu planen und sich für ein Studium in Deutschland zu bewerben", sagt Zimenkova. Und "verständlicherweise wollen die meisten so schnell wie möglich zurück". Zum anderen sei es wichtig, die wissenschaftliche Community der Ukraine zusammenzuhalten und zu stärken, betont Stefan Henkel von der Viadrina. "Die Verbindung untereinander darf nicht abreißen."
So stellen Universitäten in Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt und Leipzig auf Bitte des ukrainischen Bildungsministeriums Räume und Personal zur Verfügung. Im Sommer sollen dort Prüfungen abgehalten werden, die für Aufnahme und Fortsetzung des Studiums an ukrainischen Hochschulen nötig sind. Etwa 5500 junge Menschen werden daran teilnehmen.
Unterstützt werden auch ukrainische Universitäten
Gleichzeitig werden die einzelnen ukrainischen Universitäten dabei unterstützt, ihr digitales Lehrangebot in Zusammenarbeit mit deutschen Hochschulen aufrechtzuerhalten oder ein neues zu entwickeln. Der DAAD vergibt dazu im Rahmen des Programms "Ukraine Digital" bis Ende des Jahres mindestens 4,5 Millionen Euro des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. 86 deutsche Hochschulen haben sich mit ihren Projekten beworben. Meist geht es um virtuelle Angebote, die Studierende nutzen können, unabhängig davon, wo sie sich aufhalten, und um Stipendien und Begleitmaßnahmen, die die digitale Lehre verbessern sollen.
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In Frankfurt an der Oder plant man zusammen mit der Kyiv School of Economics eine Plattform für Onlinekurse; auch Kurse von Dozenten der Viadrina sollen dort absolviert werden können. "Die meisten Projekte laufen über Kontakte, die es schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine gab", sagt Referatsleiterin Ann-Kristin Matthé, "es wurden aber auch einige neue geknüpft." Das Programm wird Studierenden in der Ukraine und nach Deutschland Geflüchteten gleichermaßen nützen, schätzt Matthé.
Niemand weiß, wie lange der Krieg dauern und in welchem Zustand die Ukraine danach sein wird. Die Viadrina möchte jungen Menschen von dort in einem "Future Lab" vermitteln, wie man Wiederaufbauprozesse gestaltet, und das mit praktischen Erfahrungen bei lokalen Projekten und durch Aufbau eines Experten-Netzwerkes unterstützen. "Der Braindrain, die Abwanderung von Akademikern, ist eine große Gefahr für die Zukunft der Ukraine", sagt Stefan Henkel. "Es ist wichtig, die Wege zurück offenzuhalten."