Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Staat mit eingebauter Blockade

Lesezeit: 4 min

Es war einmal eine Orangene Revolution: Warum die Ukraine immer tiefer in die Krise gerät.

Alexander Kwasniewski

Wie kommt es, dass die Ukraine, ein demokratischer Staat mit einer Marktwirtschaft und sicheren Grenzen, besonders stark unter der Weltwirtschaftskrise leidet? Ökonomen würden wahrscheinlich auf eine einseitige Abhängigkeit des Landes von der Stahlproduktion verweisen. Genauer betrachtet, handelt es sich hier jedoch nicht nur um eine ökonomische Krise, sondern auch um eine der Verfassung. Der ukrainische Staat ist im Angesicht der Krise geradezu paralysiert.

In den vergangenen Jahren hat es in der Ukraine viel Fortschritt gegeben. Die Orangene Revolution von 2005 hat die Ukrainer zu einem freien Volk gemacht. Die Menschen können sagen und lesen, was sie wollen. Im Gegensatz zu vielen anderen früheren Sowjetrepubliken sind die Wahlen hier fair und geben den Willen des Volkes wieder. Die Grundrechte entwickeln sich ganz anders als im Nachbarland Russland. Unabhängig von ihrer Muttersprache und davon, in welchem Landesteil sie leben: Es gibt hier keine Sowjet-Nostalgie, keine Sehnsucht nach falschen Sicherheiten.

Staat mit zweifelhafter Ehre

Aber auch die besten Freunde der Ukraine können nicht so tun, als sei alles so, wie es sein sollte. Der Rechtsstaat ist schwach ausgeprägt, Eigentumsrechte sind unsicher, Korruption ist ein großes Problem. Die Ukraine hat enormes ökonomisches Potential. Gleichzeitig besitzt sie aber auch die zweifelhafte Ehre, das vermutlich reichste Parlament der Welt zu haben - gemessen am durchschnittlichen Vermögen der Abgeordneten. Und dann ist da die schiere Intensität des politischen Wettbewerbs, der jenseits aller vernünftigen Normen ausgetragen wird. Er hält das Land davon ab, seine Ziele zu erreichen.

Allzu oft werden persönliche Zerwürfnisse als Grund dafür genannt. Schon wahr, sie haben ihren Anteil daran, ebenso wie die Ideologien. Aber die dysfunktionalen Vorgaben der Verfassung verschärfen das Problem. Der Mangel an staatlicher Effektivität führt dazu, dass eine schlechte ökonomische Situation immer schlimmer wird. Und er gefährdet die Integration des Landes in die Weltwirtschaft. Ohne eine Verfassungsreform wird eine Wirtschaftsreform schwierig, wenn nicht unmöglich sein.

Zu viel Geld in der Politik - das dürfte nicht nur ein Problem der Ukraine sein. Das Besondere hier ist das Ausmaß, in dem kommerzielle und politische Interessen miteinander verwoben sind. Viele europäische Parlamente haben das Handicap, dass es bei ihnen an Wirtschaftskompetenz mangelt. In der Ukraine ist es genau anders herum. Bis zu einer halben Milliarde Dollar sollen vor der Parlamentswahl 2007 in den Wahlkampf geflossen sein. Eine starke Zivilgesellschaft und vitale, kritische Medien mögen diese Macht des Geldes etwas beschränken. Aber eine Wahlrechtsreform, die den einzelnen Wählern mehr und den Partei-Apparaten weniger Macht gibt (zumal letztere empfänglich für Korruption sind), muss Priorität haben. Letztlich müssen volle Transparenz und robuste ethische Richtlinien das Ziel sein.

Ein noch größeres Problem ist jedoch der Mangel an Klarheit über die Rollenverteilung zwischen Präsident, Premier, Kabinett und Parlament. Die Ukraine ist mit einer Art doppelten Präsidentschaft gesegnet. Der Inhaber des höchsten Amtes verfügt über beträchtliche Autonomie in der Außenpolitik und bei einigen Ernennungen. Aber die Kontrolle über die Wirtschaftspolitik wird ihm verweigert. Das Resultat ist nun zu besichtigen.

Das Parlament wird von Geschäftsleuten mit eng definierten Interessen dominiert. So kommt es seiner Aufgabe als Quelle der Gesetzgebung nur langsam nach. Der Präsident kann breite Ziele verkünden, sie aber nicht realisieren. Seine substantielle Macht besteht eher darin, sein Veto einzulegen. Die Folge: Nichts wird erledigt. Die Frustration führt jeden Präsidenten in die Versuchung, die nukleare Option zu wählen, nämlich den Premier zu feuern. Das Parlament antwortet, indem es den Außenminister - stets ein Mann des Präsidenten - feuert sowie versucht, ihn des Amtes zu entheben. So geht der Fokus auf jede Wirtschaftsreform verloren.

Dünne Leistung

Das Parlament hat (wenn es nicht gerade die Arbeit niederlegte) einige sinnvolle Gesetze verabschiedet, vor allem solche, die der Ukraine den Weg in die Welthandelsorganisation (WTO) bereiten. Im Vergleich zu anderen postkommunistischen Ländern ist seine Leistung jedoch dünn. Viele Abgeordnete haben ganz einfach kein Bedürfnis, Gesetze zu machen, sondern nur, Maßnahmen zu blockieren, die die Interessen von Oligarchen bedrohen könnten.

Das Verhältnis zwischen der Zentralregierung in Kiew und den Regionen ist gleichermaßen mit Konflikten behaftet. Steuern darf nur die nationale Regierung erheben. Es gibt keinen Anreiz für Stadträte, sinnvolle Politik zu machen, da ihre Etats nicht vom Erfolg der lokalen Wirtschaft abhängen. Weitere Spannungen resultieren aus dem Umstand, dass der Gouverneur einer Region ernannt wird, die Regionalparlamente hingegen gewählt werden.

Die Unterschiede zwischen den großen Parteien in der Ukraine sind auch nicht annähernd so groß wie in anderen Ländern. Es ist nur so, dass der gegenwärtige Grundaufbau Spaltung und Stau erleichtert. Persönliche Interessen unterwandern zu oft das nationale Interesse.

Drei Ansätze sind beim Bau einer neuen Verfassung entscheidend. Zunächst müssen Politisierung und Fraktionierung sowie jeder Versuch vermieden werden, die Verfassung gemäß den Interessen eines politischen Führers oder einer politischen Gruppe zu ändern. Deshalb ist die Aufforderung von Präsident Juschtschenko sehr zu begrüßen, ein Moratorium über alle politischen Streitigkeiten zu verhängen. Zweitens muss der Prozess danach streben, die Bürger einzubeziehen - um sicherzustellen, dass das neue Gefüge auch tatsächlich den Willen des Volkes wiedergibt. Und drittens sollte man auf eigene sowie auf internationale Erfahrung zurückgreifen - nicht, um dem Land eine Blaupause überzustülpen, sondern um bekannte Fallstricke zu vermeiden und sich die Errungenschaften anderer nutzbar zu machen.

Nur wenn die Fehler in der Architektur des Staates angemessen behoben werden, können die Menschen den Segen der Orangenen Revolution spüren. Die Schwäche der derzeitigen Verfassung ist täglich in den Brieftaschen der Menschen und an den Zahlen der Wirtschaft zu spüren. Es ist Zeit, sie zu beheben.

Alexander Kwasniewski, 54, war von 1995 bis 2005 Präsident von Polen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.404298
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.04.2009/lala
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.