Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Video bringt Ukraines Regierungschef unter Druck

  • Weil eine Aufnahme aufgetaucht ist, wie er sich abfällig über Präsident Selenskij äußert, reicht der ukrainische Ministerpräsident Honcharuk seinen Rücktritt rein.
  • Unklar ist, ob Selenskij und das Parlament dem Gesuch zustimmen werden.
  • Viele Abgeordnete sehen hinter der Veröffentlichung des Videos ein Manöver des umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomoiskij.

Von Florian Hassel, Warschau

Das Treffen am 16. Dezember war eine Routineangelegenheit für den ukrainischen Ministerpräsidenten Oleksej Honcharuk und andere Offizielle der Nationalbank und des Finanzministeriums. Zwei Tage vor einem angesetzten Treffen des Regierungschefs mit Präsident Wolodimir Selenskij diskutierten die Offiziellen die wirtschaftliche Lage - und warum die ukrainische Währung Hrywnja im vergangenen Jahr um etwa ein Fünftel im Wert gegenüber dem US-Dollar gestiegen sei. Man müsse dies dem Präsidenten in einfachen Worten erklären, sagte der Regierungschef, schließlich habe "Selenskij ein sehr primitives Verständnis der Wirtschaft", sagte Honcharuk - und fügte hinzu, er selbst - ein studierter Jurist - sei ebenfalls "ein Dummie" im Bereich der Wirtschaft.

Einen Monat später wurden Auszüge des Gespräches, offenbar zusammengeschnitten mit anderen Gesprächen, am 15. Januar auf Youtube veröffentlicht. In der Rada, dem ukrainischen Parlament, forderten mehrere Abgeordnete wegen des angeblich mangelnden Respekts Honcharuks gegenüber dem Präsidenten seinen Rücktritt. Noch am Donnerstag schloss der Regierungschef dies in einer Videobotschaft aus. Doch am Freitagmorgen erklärte er im Parlament, er habe dem Präsidenten sein Rücktrittsgesuch übergeben. Das Präsidialamt erklärte, es prüfe das Gesuch. Formell kann der Präsident den Regierungschef allerdings gar nicht entlassen, sondern kann dies nur dem Parlament vorschlagen, das dem Vorschlag für eine Entlassung dann mit einfacher Mehrheit zustimmen muss.

Zwar hat Selenskijs Partei "Diener des Volkes" diese einfache Mehrheit. Doch es ist alles andere als sicher, dass die Abgeordneten einem Rücktritt des Regierungschefs zustimmen, selbst wenn Honcharuk oder der Präsident dies beantragen: Denn viele Parlamentarier - selbst der ehemalige Präsident Petro Poroschenko - unterstützen Honcharuk. Sie sehen die Veröffentlichung des offenbar manipulierten Gesprächsmitschnitts als Manöver des umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomoiskij. Dieser half Selenskij vor allem durch die Unterstützung mit seinem Fernsehsender beim Einzug ins Amt. Der ehemalige Anwalt Kolomoiskijs ist der Stabschef des Präsidenten, den "Dienern des Volkes" gehören etliche Kolomoiskij nahestehende Parlamentarier an.

Honcharuk hat die Rückgabe der Privat Bank mehrmals ausgeschlossen

Selenskij wurde zwar zum Präsidenten gewählt, bei seinem Hauptziel allerdings ist Kolomoiskij nicht weitergekommen: die Privat Bank, die größte Bank der Ukraine, zurückzubekommen. Die gehörte früher mehrheitlich Kolomoiskij und seinem Geschäftspartner Gennadij Bugoljubow. Doch der Nationalbank zufolge nutzten die Oligarchen die Bank zu Geldwäsche und milliardenschwerem Betrug - entsprechende Prozesse laufen in der Ukraine, London, Genf und im US-Bundesstaat Delaware. Die Bank selbst wurde verstaatlicht. Gleichwohl versucht Kolomoiskij, die Bank durch Prozesse vor notorisch korrupten ukrainischen Gerichten zurückzubekommen.

Doch Honcharuk schloss eine Rückgabe der Privat Bank mehrmals aus - auch auf Druck des Internationalen Währungsfonds, der Kiew mit Milliardenkrediten stützt. Der Regierungschef übertrug die Kontrolle über die verstaatlichte Bank direkt dem von ihm geführten Ministerrat. In Kiew soll Kolomoiskij schon seit Monaten versucht haben, bei Selenskij einen anderen, fügsameren Regierungschef durchzusetzen.

Honcharuk könnte sogar gestärkt werden

Bei der Bekanntgabe seines Rücktrittsgesuches schrieb Honcharuk von "vielen Einflussgruppen, die versuchen, Zugang zu Finanzströmen zu bekommen... Ich kam auf diesen Posten, um das Programm des Präsidenten umzusetzen. Er ist für mich ein Modell an Offenheit und Ehrlichkeit. Ich habe das Rücktrittsgesuch geschrieben, um alle Zweifel meines Respekts und meines Vertrauens in den Präsidenten auszuräumen." Die reformorientierte Golos-Fraktion im Parlament interpretierte Honcharuks Rücktrittsgesuch als "sogenanntes Rücktrittsgesuch" ohne jedwede Folgen.

Lehnt Selenskij einen Rücktritt des Regierungschef ab, könnte dessen Stellung sogar gestärkt werden. Von anderen Politikern bekam er Unterstützung. Wirtschaftsminister Timofej Milowanow nannte ihn "den besten Ministerpräsidenten in Ukraines Geschichte". Honcharuk sei Ziel der Gegner des Kampfes gegen Korruption.

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