Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Erzwungene 96 Prozent

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Bei den Scheinreferenden in den von Russland besetzten Gebieten wurde die Bevölkerung mit Geld, Nahrungsmitteln oder Gewalt zur Teilnahme gedrängt. Am Freitag will sich nun Putin äußern und offenbar Fakten schaffen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine endete am Dienstag die Abstimmungsfrist für die Scheinreferenden, die der russische Präsident Wladimir Putin vor gerade mal einer Woche angekündigt hatte. Die Bevölkerung in jenen Teilen der Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja, die unter Kontrolle der russischen Armee stehen, war nach Augenzeugen- und Medienberichten teils unter Anwendung von Gewalt gezwungen gewesen, für den Beitritt zur Russischen Föderation zu stimmen. Die Scheinreferenden, die jeglicher völkerrechtlicher Legitimation entbehren, werden weder von der Ukraine noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Laut ersten Teilergebnissen, die von der russischen Agentur RIA veröffentlicht wurden, haben 96 Prozent mit Ja gestimmt.

Für Freitag soll eine Rede Putins vor beiden Kammern des russischen Parlaments angesetzt sein, der Kreml hat das allerdings noch nicht bestätigt. Westliche Geheimdienste wie auch die ukrainische Führung gehen in jedem Fall davon aus, dass der Präsident baldmöglichst Fakten schaffen und dem Föderationsrat die Anerkennung der Pseudoreferenden vorschlagen werde. Dann dürfte der Anschluss der besetzten Gebiete an Russland förmlich verkündet werden. Laut der russischen Zeitung Wedomosti soll ein neuer "Krim-Bezirk" künftig die Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk, Luhansk und die Halbinsel Krim umfassen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij adressierte in einer Video-Ansprache vor dem UN-Sicherheitsrat die Referenden - und Wladimir Putin. "Annexion ist die Art von Handlung, die ihn allein gegen die gesamte Menschheit stellt", sagte Selenskij. "Ein klares Signal wird jetzt von jedem Land der Welt benötigt." Solch illegale Annektierungen seien Verbrechen gegen alle Staaten.

Schon die Fragestellung auf den Stimmzetteln hatte keine Alternativen zugelassen: "Sind Sie für den Beitritt der DNR zur Russischen Föderation mit dem Status eines Föderationssubjekts?", hatte sie etwa in der sogenannten Volksrepublik Donezk geheißen. Vertreter der Besatzungsbehörden, begleitet von schwer bewaffneten Soldaten, waren von Haus zu Haus gegangen und hatten Anwohner zur Stimmabgabe gedrängt; diese fand in der Regel in aller Öffentlichkeit statt. Viele Bewohner hatten sich in den vergangenen Tagen versteckt oder ihre Türen verrammelt, um nicht zur Teilnahme an den Scheinreferenden gezwungen zu werden.

In der gleich zu Kriegsbeginn von der russischen Armee besetzten und gänzlich zerstörten Stadt Mariupol würden hungernde und durstende Bewohner mit einer Flasche Wasser belohnt, wenn sie mit Ja stimmten, berichtet die Zeitung Kyiv Independent. Aus der Region Cherson kommen Berichte, dass Wähler, die für die Angliederung an Russland votierten, Geld im Wert von mehr als 500 Euro dafür bekämen. Aus Luhansk meldet der Gouverneur Serhij Hajdaj, die Besatzer schrieben jeden namentlich auf, der mit Nein stimme. Gleichwohl gibt es vereinzelt Zeichen des zivilen Widerstands.

In der Gebietshauptstadt wird nicht abgestimmt

Um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, waren auch Minderjährige, aber auch nach Russland geflüchtete oder deportierte Ukrainer zur Wahl zugelassen gewesen. Laut dem britischen Geheimdienst hatten russische Regierungsvertreter Vorgaben für die erfundene Wahlbeteiligung und Zustimmungsrate in den Scheinreferenden gemacht, demnach müssen "mehr als 75 Prozent" Ja-Stimmen herauskommen.

Die Ansetzung der "Referenden" war in vielerlei Hinsicht ein absurd anmutender Schritt gewesen; im Gebiet Saporischschja etwa kontrollieren die Besatzungstruppen gerade mal 75 Prozent des Territoriums. Die Gebietshauptstadt Saporischschja mit vor dem Krieg etwa 750 000 Einwohnern hingegen steht immer noch unter Kontrolle ukrainischer Truppen. Aus Sicherheitsgründen werde in der Stadt nicht abgestimmt - nicht einmal online, hatte ein Vertreter des russischen Militärs mitgeteilt. Das ukrainische Ministerium für die "Integration der temporär besetzten Gebiete" in Kiew teilte mit, nur sogenannte Wahlbeobachter aus Belarus, Syrien, Ägypten, Brasilien, Venezuela, Uruguay, Togo und Südafrika würden den Vorgang überwachen. Die wenigsten dieser Länder sind selbst als funktionierende Demokratien bekannt.

Das Ergebnis der Pseudo-Abstimmung stand so oder so schon vorher fest, da Putin zugleich mit der Ankündigung der Scheinreferenden und einer Teilmobilisierung russischer Truppen verkündet hatte, ein "Beitritt" der besetzten Gebiete im Osten und Süden der Ukraine bedeute, dass diese künftig unter dem Schutz der Atommacht Russland stünden. Die ukrainische Führung warnte er, Moskau sehe jeden weiteren Angriff auf dieses Territorium als Angriff auf das eigene Staatsgebiet an und werde sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen, verteidigen. 2014 hatte Russland bereits die Schwarzmeer-Halbinsel Krim völkerrechtswidrig von der Ukraine annektiert.

Die Führung in Kiew hat Ukrainern, die an den Abstimmungen teilnehmen, Anklagen wegen Hochverrats angedroht. Wer teilgenommen habe, müsse mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, so Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Es gebe offenbar Hunderte Kollaborateure, wer aber gegen seinen Willen zur Teilnahme gezwungen werde, so Podoljak, werde nicht bestraft.

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