Energieversorgung:Kein Licht im Dunkel

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„Wir haben die gesamte Stromkapazität verloren, die etwa die Niederlande versorgt“: Seit März haben die Russen das ukrainische Energienetz wieder vermehrt im Visier. (Foto: Friedrich Bungert)

Die Russen haben das ohnehin beschädigte Energienetz der Ukraine weiter zerbombt. Immer wieder fällt der Strom aus. Schon jetzt ist klar: Der nächste Winter wird hart.

Von Florian Hassel, Kiew

Konferenzen zu Wirtschaftsthemen interessieren meist nur ein beschränktes Publikum. Doch als der Fachdienst Ukraine Business News am vergangenen Freitag zur Konferenz „Krieg und Energie“ lädt, kommen auch viele Diplomaten ins Kiewer Kongresszentrum, in dem Wolodimir Selenskij Jahre zuvor seine Wahl zum Präsidenten gefeiert hat. Alle wollen wissen, ob den Ukrainern nach den massiven russischen Angriffen auf Kraft- und Umspannwerke im ganzen Land weiterhin oft der Strom abgedreht wird – und wie der kommende Winter wird. Es ist ein düsteres Bild, das die Experten zeichnen.

Gleich zu Beginn des Krieges verlor die Ukraine die Kontrolle über einen bedeutenden Teil ihrer Stromproduktion von bis dahin fast 55 Gigawatt. Russlands Truppen besetzten etliche Kraftwerke, Windparks und Solaranlagen, übernahmen südlich von Saporischschja die Kontrolle im größten Atomkraftwerk Europas. Nach russischen Angriffen auf die ukrainische Strominfrastruktur 2022 und 2023 blieb dem Land eine Stromkapazität von gut 20 Gigawatt, so das Kiewer Analysezentrum GMK unter Berufung auf Regierungsunterlagen.

Und Ende März begann Moskau eine neue Zerstörungskampagne gegen das ukrainische Energienetz – fast alle Attacken richteten sich gegen ein gutes Dutzend Elektrizitätswerke. Russland flog sieben massive Angriffswellen, mit jeweils Dutzenden von Langstreckenbombern oder Jagdflugzeugen abgeschossenen Raketen, Marschflugkörpern von Schiffen der russischen Schwarzmeerflotte oder mit Drohnen.

Vier Atomkraftwerke erhalten die Grundversorgung aufrecht

Präsident Wolodimir Selenskij zufolge verlor die Ukraine allein bis zum 11. Juni nochmals neun Gigawatt Stromkapazität – fast die Hälfte der ihr noch verbliebenen Stromproduktion. Am 19. Juni folgte die nächste Angriffswelle, die mindestens ein weiteres Kraftwerk zerstörte. „Wir haben allein in den Angriffen seit März in wenigen Wochen die gesamte Stromkapazität verloren, die etwa die Niederlande versorgt“, sagt Wolodymyr Kudryzkyj, Direktor des für die Stromverteilung zuständigen Staatskonzerns Ukrenergo. „Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es keine solchen Schäden für die Energieversorgung mehr gegeben – und damals hingen die Menschen nicht so vollständig vom Strom ab wie heute.“ Der Ukraine bleibt nun noch eine Kapazität von gut elf Gigawatt.

Dass die Stromversorgung nicht vollständig zusammengebrochen ist, liegt vor allem daran, dass die Ukraine die Hälfte ihres Strombedarfs aus vier Atomkraftwerken deckt: Saporischschja und drei noch unter Kiewer Kontrolle stehende Atomkraftwerke. Diese hat Russland bisher nicht bombardiert – auch wenn die Lage im besetzten AKW Saporischschja Inspektoren der Internationalen Atomenergieagentur zufolge überaus brenzlig ist.

Im Sommer verbrauchen die Ukrainer Ukrenergo-Direktor Kudryzkyj zufolge 40 bis 45 Prozent weniger Strom als im Winter. Gleichwohl ist der Mangel so groß, dass seit Wochen in der gesamten Ukraine immer wieder der Strom abgeschaltet wird, mal für vier, mal für sechs Stunden, manchmal auch den ganzen Tag über. Selbst im Kiewer Kongresszentrum fällt während der gerade einmal vier Stunden dauernden Konferenz zweimal der Strom aus.

Dass die letzten russischen Angriffe so verheerend wirkten, hat Dmytro Sacharuk, Direktor des Stromkonzerns DTEK, zufolge einen einfachen Grund: „Die Russen wussten sehr genau, dass unsere Vorräte an Flugabwehrraketen erschöpft waren, und haben dies erbarmungslos ausgenutzt. Generell gilt auch jetzt noch: Auf jede Rakete unserer Luftverteidigungssysteme kommen fünf oder sechs Raketen der Russen.“

Südlich von Kiew wurde am 11. April das Heizkraftwerk Trypillja der staatlichen Stromfirma Centrenergo mit elf russischen Raketen zerstört. Präsident Selenskij zufolge hatten die Ukrainer keine Raketen für die Flugabwehr mehr, sagte er im US-Fernsehsender PBS. Auch das Heizkraftwerk Smijiwska in der Region Charkiw und die Wasserkraftwerke Kachowska und Dnjepr wurden vollständig zerstört und weitere sechs Heizkraftwerke teilweise.

Statt wie früher Strom zu exportieren, führt die Ukraine nun Strom ein. Doch selbst im besten Fall reicht das nicht, um die zerstörten Turbinen und Generatoren zu ersetzen. „Wir importieren jetzt aus Ländern wie Polen oder Rumänien insgesamt 1,7 Gigawatt“, sagt Ukrenergo-Chef Kudryzkyj auf der Konferenz. „Im allerbesten Fall können wir diese Menge auf 2,2 Gigawatt steigern.“

Die Ukraine müsse schnell etwa mehr Windparks bauen und mehr Strom aus Sonnenenergie gewinnen, so Kudryzkyj. Nichts davon wird indes die zerstörten Kapazitäten binnen weniger Monate ersetzen. Und die Aussicht, durch Reparaturen schnell wieder Kraftwerke flottzumachen, sind bescheiden. „Vielleicht schaffen wir es, vor der nächsten Heizsaison ein paar Hundert Megawatt Kapazität wiederherzustellen“, sagt der ehemalige Vizeenergieminister Oleksij Rjabtschin. „Aber was ist das schon angesichts neun Gigawatt verlorener Stromkapazität?“

„Das Ziel ist klar: die Ukraine in dauerhaften Blackout zu tauchen.“

DTEK-Direktor Sacharuk ist da etwas optimistischer: Sein Unternehmen könne die Hälfte der zerstörten Kapazität bis zum Winter wiederherstellen. Doch jedes reparierte Kraftwerk kann durch neue Angriffe zerstört werden. „Alle unsere Objekte sind schon vier oder fünf Mal angegriffen worden“, sagt er. Die Lage ist umso dramatischer, als Russlands Luftwaffe nicht nur jahrzehntealte Fliegerbomben in GPS-gesteuerte, zerstörerische Gleitbomben umgewandelt hat. „Die Kamikaze-Drohnen, die Russland vor zwei Jahren gegen uns einsetzte, waren nichts im Vergleich zu den heutigen, die Steuerungen im Abgleich mit Bordvideobildern haben und unsere Transformatoren mit erschreckender Präzision treffen“, so Sacharuk. 

Und die Raketenabwehrsysteme lassen auf sich warten. Die USA sagten jetzt zwar zu, mehr Patriot-Raketen in die Ukraine zu liefern. Zudem haben sie möglicherweise ein bisher in Polen stationiertes Patriot-System in die Ukraine geschickt; auch Deutschland, die Niederlande oder Rumänien wollen weitere Patriot-Systeme liefern. Doch von Zusagen bis zur tatsächlichen Lieferung vergehen oft Monate. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hatte schon im April die Lieferung angekündigt. Geschehen ist dies der Datenbank der Bundesregierung zufolge noch nicht. Auch trotz der Zusagen aus Rumänien und den Niederlanden ist unklar, wann die von dort versprochenen Patriots tatsächlich in der Ukraine eintreffen.

Prognosen, ob und wie lange die Ukrainer im Winter im Dunkeln oder ohne Heizung dasitzen werden, wagen auf der Kiewer Konferenz selbst die Spezialisten nicht. Alles dürfte davon abhängen, wie erfolgreich weitere russische Angriffe sein werden. „Und diese Angriffe werden weitergehen. Das russische Ziel ist klar: die ganze Ukraine in einen dauerhaften Blackout zu tauchen“, sagt der Ukrenergo-Chef Kudryzkyj. DTEK-Direktor Sacharuk wird noch deutlicher: „Ohne viel mehr neue Raketen für die Flugabwehr haben wir keine Chance, durch den Winter zu kommen.“

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Von Florian Hassel (Text) und Friedrich Bungert (Fotos)

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