Ukraine-Krise:Zwischen Furcht und Gelassenheit

Ukraine-Krise: Charkiw (russisch: Charkow) liegt nur 30 Kilometer entfernt von Russland. Tausende demonstrierten hier am Wochenende gegen den Aufmarsch von Putins Truppen - viele haben Angst.

Charkiw (russisch: Charkow) liegt nur 30 Kilometer entfernt von Russland. Tausende demonstrierten hier am Wochenende gegen den Aufmarsch von Putins Truppen - viele haben Angst.

(Foto: Evgeniy Maloletka/dpa)

Alle sprechen gerade über die Ukraine, aber was sagen die Ukrainer eigentlich selbst zum russischen Aufmarsch? Manche geben sich entspannt wie der Präsident - andere packen schon Notfallkoffer.

Von Frank Nienhuysen

Bei all der quirligen Ukraine-Diplomatie in Europas Hauptstädten wird immerhin auch Charkiw nicht vergessen. Charkiw ist eine Millionenstadt, über die der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij neulich mutmaßte, dass Russland es bei einem Einmarsch auf sie absehen könnte. Die Stadt liegt nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und wurde an diesem Freitag deshalb zu einem symbolischen Ort. Jedenfalls in der Ukraine. Präsident Selenskij ist nach Charkiw gekommen, der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat tagte dort. Gemeinsam beriet man, wie man die Region verteidigen könne.

Selenskij hat mehrmals die USA vor Panikmache angesichts des russischen Aufmarsches in der Grenzregion gewarnt und versucht, größtmögliche Gelassenheit auszustrahlen. Aber er macht sich schon auch auf alles gefasst. So repräsentiert er in etwa die Stimmung, die auch in der ukrainischen Bevölkerung gerade spürbar ist: eine Mischung aus Alltagsroutine, trotzdem erhöhter Wachsamkeit und bisweilen auch Furcht.

Am vergangenen Wochenende sind in Charkiw Tausende Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen die Bedrohung durch Russland demonstriert. Viele Bewohner haben bereits einen Notfallkoffer gepackt, machen sich Gedanken darüber, wohin sie im Fall der Fälle mit ihrer Familie fürs Erste flüchten könnten. Am Telefon aber sagt Elena aus Charkiw, die in einem Verlag arbeitet und ihren Nachnamen nicht nennen will: "Ich kenne einige, die Lebensmittelvorräte gekauft haben, ich gehöre aber nicht dazu. Und viele, die ich kenne, auch nicht. Ich vertraue den Behörden und der Führung."

Trotz aller Sorgen und Ängste hat sich in der Ukraine bei Politikern und in der Gesellschaft auch ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, dass es so schlimm schon nicht kommen werde - oder das Land wenigstens gewappnet ist. Über Deutschlands Zurückhaltung bei Waffenlieferungen ist man in Kiew zwar nicht erfreut, dennoch kommt der Verteidigungsexperte Mykola Beleskow zu dem Schluss: "Die Ukraine hat jetzt die besten Streitkräfte in 30 Jahren Unabhängigkeit. Sie sind am besten vorbereitet und am besten trainiert." Noch vor acht Jahren, als Russland die Krim annektierte und der Krieg im Donbass begann, habe die Armee nur auf dem Papier bestanden, hätten Soldaten noch antiquierte Gewehre aus sowjetischer Produktion gehabt, um Uniformen und vernünftige Stiefel gekämpft.

Präsident Selenskij dürfte innenpolitisch kaum überleben, sollte er allzu große Zugeständnisse machen

Das ukrainische Verteidigungsbudget hat sich binnen eines Jahrzehnts verdreifacht; die USA haben geschätzte 2,5 Milliarden Dollar an Militärhilfe geschickt, Großbritannien sagte Waffen zu, die Türkei verkaufte Drohnen, Litauen kündigte jetzt neben Nachtsichtgeräten auch die Lieferung von Abwehrraketen an, die "in den nächsten Tagen kommen werden". Ein Krieg mit Russland "würde hart für uns, sehr hart", sagt Beleskow, "aber es würde auch nicht leicht für die Russen". Diplomatisch erfährt die Ukraine ohnehin derzeit große Solidarität. Sie weiß: Der Westen tüftelt prophylaktisch harte Sanktionen gegen Russland aus, sollte Moskau militärisch eingreifen.

All das hat auch Auswirkungen auf die Kiewer Haltung bei den internationalen Gesprächen. Denn wo so häufig von roten Linien die Rede ist, hat die Ukraine auch gleich selber welche gezogen. Außenminister Dmytro Kuleba erklärte, Kiew werde es nie zulassen, dass die von den prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete im Donbass ein Vetorecht "für beliebige Entscheidungen über die strategische Entwicklung der Ukraine" erhielten. Heißt auch: für einen möglichen Beitritt zur Nato. Die ukrainische Führung lehnt kategorisch direkte Gespräche mit den Separatistenführern ab, um sie damit nicht faktisch anzuerkennen, zumal Kiew hinter ihnen ohnehin die russische Führung sieht. Und: keine Kompromisse, was die Kontrolle über die Landesgrenzen betrifft.

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(Foto: Ilona Burgarth)

In der Ukraine wird derzeit darüber debattiert, durchaus gespickt mit einigem Misstrauen, dass auch westliche Staaten Kiew für die Gespräche mit Moskau unter mehr oder weniger sanften Druck setzen könnten. Als Schlüssel für eine mögliche Entspannung gilt das Minsker Abkommen. Aber die Details sind knifflig. Für einen dauerhaften Sonderstatus des Donbass etwa müssten dort zunächst Wahlen stattfinden - nur kann Kiew sich nicht vorstellen, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine solche Abstimmung nach ukrainischen Gesetzen, mit allen Parteien und ohne Behinderungen, als frei und fair bezeugen kann, wenn in den Gebieten von Moskau unterstützte Separatisten das Sagen haben.

Der Spielraum bei den diplomatischen Gesprächen ist sehr begrenzt, nicht nur wegen Russlands wiederholter Forderung nach Sicherheitsgarantien, sondern auch wegen der Lage in der Ukraine selbst. Präsident Selenskij dürfte innenpolitisch kaum überleben, sollte er allzu große Zugeständnisse machen. Nach Umfragen des Kiewer Soziologie-Instituts KMIS von Ende Januar wird Selenskij nur noch von knapp 24 Prozent aller Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützt - Tendenz fallend. Sein Vorgänger und Rivale Petro Poroschenko, Chef der Oppositionspartei Europäische Solidarität, der sich derzeit in einem Gerichtsverfahren gegen den Vorwurf des Hochverrats wehren muss, kommt demnach auf knapp 21 Prozent - Tendenz steigend.

Die ukrainische Bevölkerung versucht sich derweil pragmatisch durch die Zeit der Spannungen zu kämpfen. Die Nachfrage nach Verteidigungs- und Sanitätskursen in der Hauptstadt Kiew ist immens, die Zeitung Kyiv Post hat zur Sicherheit Auszüge aus einer 14-seitigen Broschüre veröffentlicht, in der eine Tasche mit Wasser für drei Tage, vorgekochtem Essen, medizinischem Alkohol, Nadeln, Kompass, Streichhölzern und anderen Dingen empfohlen wird - und in der auch aufgelistet ist, welche Nachbarländer auf welchen Wegen erreichbar sind.

"Ist plötzlich Krieg?" titelte die Nachrichtenagentur Unian einen längeren Bericht. Er brachte jedoch die unspektakuläre Erkenntnis, dass trotz des Bedrohungsgefühls keineswegs die Supermarktregale leergekauft werden. Und dass es dazu auch keinen Grund gebe. Es empfehle sich, Ruhe zu bewahren, darin sind sich die zitierten Experten einig. Einen Erfolg der Diplomatie halten alle für möglich. Das Land produziere genug, außerdem habe es im vorigen Jahr einen Rekord bei der Getreideernte gegeben.

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