Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Putins doppeltes Spiel

Russland kündigt einen Truppenabzug von der Grenze zur Ukraine an - verstärkt aber gleichzeitig seinen Zugriff im Donbass.

Von Florian Hassel, Warschau

Die Ukraine stellt es offiziell als Erfolg von Präsident Wolodimir Selenskij dar: Russland hat angekündigt, Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen und sie auch auf der besetzten Krim zu verringern. Doch Kiewer Politiker und unabhängige Beobachter sind gleichzeitig besorgt: Die Spannungen im russisch besetzten Donbass gehen weiter, Moskau baut dort die Kontrolle aus.

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte am Donnerstag den Abzug von Soldaten an der Grenze zur Ukraine und teils auch von der besetzten Krim angekündigt. Allein der Abzug von der ukrainischen Grenze beläuft sich nach Schätzungen Kiewer Militärs und des EU-Außenbeauftragten Josep Borell auf etwa 100 000 Mann. Selenskijs Stabschef Andrij Jermak feierte dies als "Resultat der Arbeit des Präsidenten, seiner Mannschaft und zweifellos der Unterstützung unserer Partner, mit denen wir heute gegenüber Russland mit einer Stimme sprechen".

Selenskij hatte in den vergangenen Wochen mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso gesprochen wie mit Englands Premier Boris Johnson und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Alle hatten Russlands Präsident Wladimir Putin aufgefordert, russische Truppen von der Grenze zur Ukraine abzuziehen.

Meldungen russischer Medien zufolge hat der Abzug bereits begonnen. Gleichwohl sollen etwa Hunderte Panzer und andere Militärfahrzeuge der 41. Armee Verteidigungsminister Schoigu zufolge auf dem Truppenübungsplatz Pogonowo in der Nähe von Woronesch bleiben, nur einen Tagesmarsch von der Grenze zur Ukraine entfernt. Im Spätsommer steht dort und an anderen Stellen das jährliche Großmanöver "Sapad" (Westen) an. Die Recherchegruppe "Conflict Intelligence Team" wies darauf hin, dass Moskau auch im Mai 2014 zunächst Truppen abzog, nur um sie im Juli 2014 angesichts einer damals drohenden Niederlage kremlorganisierter Rebellen gegen die ukrainische Armee zuerst wieder an die Grenze zu verlegen und im August 2014 selbst in der Ostukraine zu kämpfen.

Kiewer Analysten zufolge wird der ukrainische Präsident, dessen Beliebtheit zuletzt ebenso wie die seiner Partei stark gesunken war, nach der Abzugsankündigung nun "die Lorbeeren des Sieges einstreichen". So urteilt etwa Wiktor Bobirenko vom Büro für Politikanalysen in der Ukrainska Prawda. Im 2023 anstehenden Kampf um die Präsidentschaft werde der lange als moskaufreundlich geltende Selenskij versuchen, nun auch bei nationalistisch gesinnten Ukrainern mit dem Argument zu punkten, er habe Putin gezähmt.

Putin nennt die von ihm kontrollierten Gebiete "Republiken"

Gleichwohl gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine politische Wiederannäherung zwischen Kiew und Moskau oder ein Ende des seit 2014 dauernden Krieges im Donbass. Russland kontrolliert in der "Volksrepublik Donezk" (DNR) und der "Volksrepublik Lugansk" (LNR) schätzungsweise 28 000 Soldaten. Präsident Putin lehnte bei einem Treffen mit dem weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko am Donnerstag ein Angebot Präsident Selenskijs zu direkten Verhandlungen im Donbass ab.

Vor einem Gespräch mit ihm, Putin, das in Moskau stattfinden könne, müsse sich Selenskij "mit den Führern der Republiken LNR und DNR treffen", sagte Putin . "Es gibt (Dennis) Puschilin, es gibt (Leonid) Pasetschnik - zwei Führer dieser beiden Republiken", bekräftigte Putin. Es ist das erste Mal, dass Russlands Präsident die kremlkontrollierten Gebiete im Donbass offiziell "Republiken" nennt. Russlands Kommunistenchef Gennadij Sjuganow stößt in die gleiche Richtung: "Wir müssen offiziell erklären, dass wir sie (DNR und LNR, d.Red.) anerkennen und sie verteidigen werden, auch militärisch", sagte Sjuganow am 20. April.

Einem Rebellenvertreter zufolge hat der Kreml im Donbass bereits über eine halbe Million russischer Pässe ausgegeben. Moskau verstärkt seit Monaten auch Aussagen über einen möglichen Anschluss von "DNR" und "LNR" an Russland, etwa im Kreml-Propagandasender Russia Today. Ein Kiewer Sprecher lehnte indes am Freitag jedwede Gespräche mit den nominellen Führern von "DNR" oder "LNR" prinzipiell ab.

Auch von militärischer Entspannung ist im Donbass nichts zu sehen. Der Chefbeobachter der OSZE im Donbass berichtete über zunehmende Aktivitäten an der Front in der Ostukraine, steigende zivile Verluste und zerstörte Infrastruktur. Auch würden die OSZE-Beobachter noch stärker als zuvor daran gehindert, in den faktisch von Moskau kontrollierten "DNR" und "LNR" zu patrouillieren. Am 19. April registrierten die OSZE-Beobachter auf dem Rebellengebiet nahe der Front zwölf vom Minsker Abkommen verbotene BM-21-Raketenwerfer, 42 Panzer und ein Luftabwehrsystem.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5274466
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/bepe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.