In einem der massivsten Angriffe seit Beginn seines Überfalls auf die Ukraine hat Russland am Montagmorgen Ziele in mindestens 15 Regionen der Ukraine angegriffen. Präsident Wolodimir Selenskij zufolge griff Moskau die Ukraine mit mehr als 100 Raketen und Marschflugkörpern und rund 100 bombenbestückten Drohnen an. Unklar blieb zunächst, wie viele von ihnen abgeschossen wurden und wie viele ihre Ziele trafen. Selenskij zufolge gab es Tote, deren Zahl er zunächst nicht nannte.
Laut Präsident wurden vor allem Objekte der Stromversorgung und Infrastruktur angegriffen. Die Ukraine hatte bereits bei vorangegangenen Angriffen im Frühjahr und Sommer rund die Hälfte ihrer Stromkapazität eingebüßt. Die Versorgung der Bevölkerung mit Strom, Wasser und Heizung im bevorstehenden Winter gilt als die kritischste Frage neben der militärischen Situation vor allem im Osten des Landes.
Wladyslaw Selesnew, ehemaliger Sprecher des ukrainischen Generalstabs, sagte im Radiosender NV, der Angriff gehöre zu den drei massivsten Angriffe seit dem 24. Februar 2022. Ziel Moskaus sei es, die Ukraine „in einen Blackout“ zu tauchen. Energieminister Herman Haluschtschenko teilte mit, in der gesamten Ukraine hätten Notabschaltungen bei Strom begonnen.
Warnung vor Aufmarsch belarussischer Truppen
Die Angriffe auf die Stromversorgung verdrängten andere Nachrichten – vor allem über die kritische Lage in der Ostukraine. Dort stehen russische Einheiten möglicherweise kurz davor, den wichtigen Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk zu erobern. Für Unruhe sorgte zudem eine Warnung des ukrainischen Außenministeriums an seinen nördlichen Nachbarn Belarus, zu Beginn des Überfalls Aufmarschgebiet russischer Truppen und enger Alliierter Moskaus.
Seit Wochen machen Nachrichten über Verlagerungen belarussischer Soldaten in die Nähe der Grenze zur Ukraine die Runde. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko sagte am 15. August im russischen Staatsfernsehen, die Ukraine habe zuerst 120 000 Soldaten an die Grenze zu Belarus verlegt und danach weiter verstärkt. Deswegen sei er, Lukaschenko, gezwungen gewesen, ein Drittel seiner Streitkräfte in Grenznähe zu verlagern. Später sei der mögliche Konflikt indes durch Gespräche mit Kiew entschärft worden, hätten beide Seiten ihre Verstärkungen wieder abgezogen.
In den vergangenen Tagen gab es indes neue Meldungen über Verlegungen belarussischer Truppen. Das Außenministerium in Kiew warnte Minsk in einer am 25. August veröffentlichten Erklärung: „Übungen im Grenzgebiet und in Nähe des Atomkraftwerks von Tschernobyl stellen eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Ukraine und die globale Sicherheit allgemein dar.“ Kiew drohte für den Fall „der Verletzung der ukrainischen Staatsgrenze durch Belarus“ mit umfangreichen Angriffen auf belarussische Ziele.
Das ukrainische Außenministerium nannte keine Zahlen über die belarussischen Truppen. Dies tat der unabhängige belarussische Infodienst Belarusskij Gajun. Laut einer detaillierten Aufstellung vom 23. August hat Belarus gerade rund 1100 Soldaten in Grenznähe verlegt, die zudem bis zu 50 Kilometer von der Grenze entfernt seien und „keine Bedrohung für die Ukraine darstellen“.
Nur ein politisches Manöver?
Vielmehr seien die Verlegungen ein politisches Manöver Lukaschenkos, um Einsatzbereitschaft zu demonstrieren: Der belarussische Diktator sei in Russland kritisiert worden, weil vorangegangene Abzüge belarussischer Soldaten zum Gelingen des Vorstoßes der ukrainischen Armee in die russische Grenzregion Kursk beigetragen hätten. Auch westliche Militäranalysten etwa des Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington schenken den belarussischen Verlagerungen bisher keine Aufmerksamkeit.
Deutlich kritischer ist für die Ukraine die Lage im Osten des Landes. Dort ist die russische Armee seit dem Fall der Stadt Awdijiwka im Februar dem ISW zufolge 23 Kilometer weiter nach Westen vorgerückt – und steht nun nur noch rund zehn Kilometer entfernt von Pokrowsk, einem Straßen- und Eisenbahnknotenpunkt und neben den Garnisonsstädten Kramatorsk und Slawjansk der wichtigste Versorgungspunkt der ukrainischen Armee in der Donbass-Region.
Der ukrainische Militärjournalist Jurij Butusow zeichnete am 23. August ein düsteres Bild der Lage in Pokrowsk und kritisierte Versäumnisse der ukrainischen Führung. Die ukrainische Armee sei nur in der Region Kursk auf dem Vormarsch, Russland aber an acht Stellen in der Ukraine.