Krieg in der Ukraine:"Es erstaunt, wie schnell russische Verteidigungslinien kollabieren"

Krieg in der Ukraine: Ukrainische Soldaten in einem Schützengraben im Donbass.

Ukrainische Soldaten in einem Schützengraben im Donbass.

(Foto: Reuters)

Die ukrainische Armee meldet gerade einen Erfolg nach dem anderen. Steht eine Wende im Krieg bevor? Militärexperte Carlo Masala warnt noch vor zu viel Optimismus.

Von Nicolas Freund

Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach von einem "Schlüsselmoment" im Krieg in der Ukraine, und auch der US-Außenminister Antony Blinken sagte am Donnerstag bei seinem Besuch in Kiew über die derzeit laufenden Gegenangriffe der ukrainischen Armee: "Es ist noch sehr früh, aber wir sehen deutliche und echte Fortschritte vor Ort, insbesondere in der Gegend von Cherson, aber auch einige interessante Entwicklungen im Donbass im Osten." Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij erklärt, ukrainische Streitkräfte hätten seit Beginn des Monats mehr als 1000 Quadratkilometer zurückerobert. Erst im Süden, dann später nördlich bei Charkiw hat die ukrainische Armee überraschend russische Stellungen durchbrochen und Orte zurückerobert.

Experten hatten aber zuletzt vor zu viel Optimismus gewarnt: Die ukrainische Armee verfüge nicht über die Mittel für eine großangelegte Gegenoffensive, auch wenn diese vom Generalstab immer wieder angekündigt wurde. Wie sind nun also diese Stimmen aus Kiew und den USA zu bewerten? "Die ukrainischen Erfolge sind da. Ob sie in dem Maße da sind, wie zum Beispiel Selenskij es behauptet hat, das vermag niemand zu sagen", erklärt Carlo Masala, Professor für Internationale Politik und Militärexperte an der Universität der Bundeswehr München. Auch er rät, die aktuelle Lage nicht zu positiv zu bewerten. "Es ist noch immer keine große Gegenoffensive, und wir wissen auch nicht, ob die ukrainischen Truppen in der Lage sind, das eroberte Gebiet in der Tiefe zu halten."

Mindestens der Vorstoß bei Charkiw scheint die russische Armee jetzt schon so unter Druck zu setzen wie seit Monaten nicht mehr. "Es erstaunt, wie schnell russische Verteidigungslinien kollabieren", sagt Masala. "Es wird jetzt offensichtlich, dass den Russen Kampftruppen fehlen." Wenn die Offensive wirklich bis zu 50 Kilometer hinter die Frontlinien vorgedrungen ist, dann wären wichtige Versorgungspunkte der russischen Armee in Kupjansk oder sogar in Isjum bedroht. Laut Masala ist genau das die ukrainische Strategie: "Die Ukrainer machen Nadelstichaktionen, und ich vermute, sie zielen darauf ab, dass die russische Armee zumindest in Teilen zusammenbricht. Sie setzen darauf, dass unter den Freiwilligenverbänden Panik ausbricht. Und sie versuchen, die russischen Truppen in Bewegung zu halten, damit sie sich nicht in gute Verteidigungspositionen zurückziehen können."

Diese Vorstöße sind für die ukrainische Armee riskant. Angreifer haben in der Regel deutlich mehr Verluste als Verteidiger, und die russische Armee ist der ukrainischen zahlenmäßig deutlich überlegen. "Wir wissen, dass der Preis für diese Erfolge extrem hoch ist", sagt Masala über die nur vage bekannten ukrainischen Verluste. "Was in dieser Situation aber normal ist. Nach dem klassischen Lehrbuch bräuchte man für einen Angriff eine drei- bis vierfache Überlegenheit. Die hat die Ukraine nicht." Diese Unterlegenheit an Material und Personal setzt den Gegenangriffen Grenzen. So ist im Süden eher nicht mit Vorstößen wie im Norden zu rechnen. Masala: "Es wird keine Schlacht um Cherson geben. Dazu haben die Ukrainer nicht die Kräfte. Wenn die Stadt eingenommen wird, dann deshalb, weil die Russen sich zurückziehen. Nicht weil sie im Häuserkampf erobert wird."

Sind die im Rahmen der Möglichkeiten aber doch bisher sehr erfolgreichen ukrainischen Gegenangriffe nun der "Schlüsselmoment", wie es von den USA heißt? Masala sieht eher die Innenpolitik der westlichen Staaten als Schlüssel zum weiteren Verlauf des Konflikts. "Die USA laufen auf die Midterms zu, und uns treffen die innenpolitischen Probleme durch steigende Preise. Also muss die Ukraine jetzt in die Offensive gehen und Erfolge zeigen, damit die Unterstützung weiterläuft." Dieses Fenster für eine Offensive ist aber wahrscheinlich jahreszeitlich begrenzt, im Herbst, wenn sich die ukrainischen Äcker in Schlammwüsten verwandeln, sind Vorstöße mit Panzerverbänden und die schnelle Verlegung von Artillerie kaum noch möglich.

Masala vermutet, dass Moskau auf diesen Moment wartet, in Kombination mit möglichen innenpolitischen Unruhen im Westen. "Dann wird Putin einen Waffenstillstand anbieten, vielleicht sogar etwas Territorium abtreten und auf dem Rest aber hocken bleiben. Das wird großen Druck auf die Ukraine ausüben. Olaf Scholz und Emmanuel Macron werden dann die Ersten sein, die nach Kiew reisen, um Selenskij zu überzeugen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen." Wenn Russland zu diesem Zeitpunkt noch immer mehr als ein Fünftel der Ukraine besetzt hat, wäre das ein großer Erfolg für Moskau.

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