Der Krieg, den Russland über die Ukraine gebracht hat, ist noch nicht zu Ende, täglich werden Angriffe auf ukrainische Städte gemeldet. Derweil laufen im Hintergrund die Vorbereitungen für die Zeit danach. Dazu gehört der Versuch, die Aggressoren aus Moskau strafrechtlich verantwortlich zu machen. Am Dienstagabend verkündete der Europarat einen „großen Schritt“ hin zur Errichtung eines Ukraine-Sondertribunals, die Europäische Union sprach gar von einem Durchbruch. „Wir haben das rechtliche Fundament für ein Sondertribunal geschaffen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Das Sondertribunal ist darauf angelegt, eine Strafbarkeitslücke zu schließen. Eigentlich ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag für Straftaten dieser Dimension konzipiert, etwa Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit; entsprechende Haftbefehle gegen Wladimir Putin und andere Führungsfiguren hat der Gerichtshof bereits erlassen.
Der Europarat hat viel Erfahrung mit internationaler Justiz, auch mit Prozessen gegen Russland
Allerdings sind dem Gerichtshof in Den Haag die Hände gebunden, wenn es um den politisch brisanten Tatbestand der Aggression geht – also den Angriffskrieg. Weil Russland dem Statut des Gerichtshofs nicht beigetreten ist – die Ukraine hat dies vergangenes Jahr nachgeholt –, wäre eine solche Anklage nur mit dem Plazet des UN-Sicherheitsrats möglich, das Russland durch seine Vetomacht aber verhindern würde.
Um diese Lücke zu schließen, treibt eine „Core Group“ von etwa 40 Staaten – vor allem aus Europa, aber auch die USA, Kanada und Japan gehören dazu – seit geraumer Zeit die Einrichtung eines Sondertribunals voran. Inzwischen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass dazu ein bilateraler Vertrag zwischen der Ukraine und dem Europarat geschlossen werden soll, einem Bündnis aus 46 Staaten, dessen wichtigste Institution ebenfalls ein Gericht ist, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die Ukraine würde damit, technisch gesehen, die Strafverfolgung für den Tatbestand der Aggression auf den Europarat übertragen.
Die Vorteile dieser Lösung liegen auf der Hand. Der Europarat hat durch seinen Gerichtshof große Erfahrung mit internationaler Justiz, zumal mit Prozessen gegen Russland. Auch nach dessen Ausschluss im Jahr 2022 sind noch Tausende Fälle in Straßburg anhängig. Das Tribunal würde mithin in einer existierenden Organisation verankert. „Es könnte von Infrastruktur und Know-how des Europarats profitieren“, so hatte es im September dessen Rechtsberater Jörg Polakiewicz formuliert, der in den Beratungen eine wichtige Rolle spielt.
Allerdings war der Rückgriff auf vorwiegend europäische Unterstützer letztlich eine Notlösung. Weil die wichtigste Währung eines internationalen Gerichtshofs Legitimität ist, wären eigentlich die Vereinten Nationen dafür die richtige Adresse gewesen – weil nur so ein wirklich breites internationales Fundament zu erreichen ist. „Je nationaler das Gericht, desto schwächer ist es“, sagt der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos.
Geklärt werden muss noch, ob Putin und Lawrow Immunität zusteht, solange sie im Amt sind
Weil der UN-Sicherheitsrat durch Russlands Vetomacht ausfällt, hatte Ambos frühzeitig dafür plädiert, ein positives Votum der UN-Generalversammlung einzuholen. Doch das wollten die Architekten des Tribunals nicht riskieren, auch deshalb, weil die Gerichtspläne im globalen Süden – anders als in Europa – eher kritisch gesehen werden. Und ein allzu knappes Votum der Generalversammlung wäre ein halber Sieg für Putin gewesen. Immerhin hatte die UN Russlands Angriffskrieg mit großer Mehrheit verurteilt; im Frühjahr 2022 stimmten rund 140 von gut 193 Mitgliedstaaten dafür.
Die Einigung vom Dienstagabend wurde auf der Ebene der juristischen Fachleute getroffen; die politische Entscheidung über zentrale Fragen steht noch aus. Die wichtigste davon betrifft den Grundsatz der Immunität. Danach könnten die Mitglieder der Führungstroika – Putin, Sicherheitsrats-Vize Dmitrij Medwedjew und Außenminister Sergej Lawrow – nicht vor Gericht gestellt werden, solange sie im Amt sind, selbst wenn man ihrer habhaft würde. Sollte sich diese Lesart am Ende durchsetzen, könnte das Tribunal gleichwohl sozusagen auf Vorrat ermitteln und Beweismaterial sammeln. Die Geschichte zeige, dass irgendwann jeder Diktator falle, heißt es im Europarat.
Umstritten ist zudem, ob man Prozesse in Abwesenheit zulassen möchte. Rechtsstaatlich sind solche Verfahren äußerst heikel – weil jeder Angeklagte die Chance haben muss, sich wirksam zu verteidigen. Andererseits: Dass Wladimir Putin je leibhaftig auf einer Anklagebank Platz nehmen wird, ist derzeit eher unwahrscheinlich. Der harte Teil der Arbeit beginne jetzt, sagte Alain Berset, Generalsekretär des Europarats. „Wir werden nicht innehalten, bis Russland vollständig verantwortlich gemacht wird und Gerechtigkeit geschieht.“
Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Textes haben wir Dmitrij Medwedjew fälschlicherweise als Premierminister bezeichnet. Richtig ist, dass er von 2008 bis 2012 Präsident und anschließend bis 2020 russischer Ministerpräsident war. Aktuell ist er stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates der Russischen Föderation.